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Friday, October 17, 2014

Pornland: Wie die Pornoindustrie uns unserer Sexualität beraubt - How Porn Has Hijacked Our Sexuality

Was folgt bezieht sich nicht auf das Buch, das ist meine Meinung über Mainstream-Pornos und über die herrschenden gesellschaftlichen  Zustände, in der sexuelle Gewalt alltäglich ist.

Weil die Pornoindustrie von Männern dominiert wird, ist es kein Wunder, dass sie NUR die männlichen perversen Sex-Fantasien produziert, die mit der Realität nichts zu tun haben.
Vor allem Jugendlichen wird durch das Internet nicht nur diese perverse Scheiße vermittelt,
sondern viele werden davon auch süchtig. Täglich 16 bis 20 mal zu wichsen ist bei Jungs keine Ausnahme. Da weder Eltern noch Schulen Kinder über Sex vernünftig aufklären, werden die meisten Wichser bleiben, womit ich nicht nur die Handarbeit meine, sondern Mädchen und Frauen ersetzen NUR die Hand.



Die meisten Menschen denken bei Pornografie an sympathisch wirkende Dinge wie Josefine Mutzenbacher, den Playboy, Schmuddelhefte mit Bildchen oder verstaubte Videokassetten. Es herrscht die Meinung vor, dass Pornografie zumindest auch die Befreiung vom überkommenen Denkvorschriften und Sozialnormen sei. Heute hat Pornografie mit den Medien des letzten Jahrhunderts kaum mehr etwas gemein. Durch das Internet ist eine Pornoindustrie entstanden, die fast ausschließlich aggressiven Charakter hat: Immer leichter ist der Zugang zu immer brutalerem Material, das Sex nur noch als harte Inbesitznahme und rücksichtsloses Quälen zulässt. Immer jünger werden die Konsumenten, immer intensiver die Wirkung dieser Produkte auf deren Vorstellungen und Handlungen. Ein ganzer Kulturbereich hat sich jeder Kontrolle entzogen, seine Hauptwirkung ist ein nie dagewesenes soziales Experiment: Die totale Entmenschlichung einer der intimsten Sphären des Menschen. Indem wir unsere Sexualität und die unserer Kinder von dieser Industrie bestimmen lassen, werden Frauen aber auch Männer systematisch entwürdigt. Diese moderne Form der Pornografie ist nicht nur kein Akt der Befreiung von Zwängen mehr sie ist selbst zum Feind humaner Verhältnisse geworden. Mit den Mitteln der Wissenschaft entlarvt Dines die Ökonomie der Pornografie, ihre Verbreitung und ihre Auswirkungen ebenso gekonnt wie vernünftig. Dieses Buch wird Ihr Leben verändern. Ignorieren Sie es auf eigene Gefahr.

Robin Morgan Ein unvoreingenommener Blick auf die Art, wie Pornoindustrie aus Verwertungsinteressen das Geschenk unserer Sexualität ausbeutet und beschädigt. Wendy Maltz Bravo, Gail Dines! Sie entlarvt ein großes Problem unserer Zeit, dem sich nur wenige stellen. Dines folgt dem Weg des Geldes, stellt Doppelzüngigkeit und Gier von Unternehmen bloß und zeigt dabei, wie die Pornografie stetig unseren Alltag infiltriert hat - von der Wiege bis zur Bahre. Diane Levin

Quelle amazon.de


How Porn Has Hijacked Our Sexuality

Astonishingly, the average age of first viewing porn is now 11.5 years for boys, and with the advent of the Internet, it’s no surprise that young people are consuming more porn than ever. And, as Gail Dines shows, today’s porn is strikingly different from yesterday’s Playboy. As porn culture has become absorbed into pop culture, a new wave of entrepreneurs are creating porn that is even more hard-core, violent, sexist, and racist. Proving that porn desensitizes and actually limits our sexual freedom, Dines argues its omnipresence is a public health concern we can no longer ignore.

Editorial Reviews
From Publishers Weekly
As pornography has become both more extreme and more commercial, antiporn activist Dines argues, it has dehumanized our sexual relationships. The radical objectification and often brutal denigration of women in porn, she holds, leaks into other aspects of our lives. Dines's argument rests on a compelling, close reading of the imagery and narrative content of magazines, videos, and marketing materials; what is missing, however, is a similarly compelling body of research on how these images are used by viewers, aside from Dines's own anecdotal evidence. The author's appropriation of addiction terminology—viewers are called users, habitual viewing is an addiction, and pornography featuring teenagers is called Pseudo-Child Pornography or PCP—is distracting and suggests that rhetorical tricks are needed because solid argumentation is lacking. Likewise, Dines's opponents are unlikely to be swayed by her speculation tying porn viewing to rape and child molestation, nor by the selective sources she draws on to support her point (convicted sex offenders). The book does raise important questions about the commoditization of sexual desires and the extent to which pornography has become part of our economy (with hotel chains and cable and satellite companies among the largest distributors). (July)
Copyright © Reed Business Information, a division of Reed Elsevier Inc. All rights reserved. --This text refers to the Hardcover edition.

From Booklist
Dines takes on the scourge of pornography and its permeation of all facets of culture in this history and call to action: “We are in the midst of a massive social experiment, and nobody really knows how living in Pornland will shape our culture. What we do know is that we are surrounded by images that degrade and debase women and that for this the entire culture pays a price.” Generously referenced, Dines' screed carefully builds her case that pornography's pernicious influence is a factor in the rise in brutishness and sexual violence, focusing specifically on how heterosexual pornography negatively impacts women. She has no time for arguments that so-called softer genres might be acceptable, and she goes into detail in explaining her reasoning. Perhaps she imputes too much significance to current flavors in the never-ending commodification of porn, but her purpose is to offer a compelling explanation of an issue that often makes Americans uneasy. A good, provocative title, but it should be remembered that to adequately discuss porn, one must adequately describe it. --Mike Tribby --This text refers to the Hardcover edition.

Source: amazon.com

Wednesday, August 20, 2014

Ungebändigt von Katherine Angel


Kurzbeschreibung
Dieses Buch ist ein intimes und erotisches Geständnis einer Frau und Geliebten. Es ist aber auch eine intensive Betrachtung widersprüchlicher und in unserer Gesellschaft fest verwurzelter Vorstellungen von Sexualität. Mit bemerkenswerter Offenheit reflektiert Angel die Geschichte ihrer sexuellen Begegnungen und Überzeugungen und zeigt, wie unser Leben durch unsere Sprache und unsere Erfahrungen geprägt wird. Lyrisch, erotisch, mutig und mit Bildern, die einem im Gedächtnis bleiben.

Über die Autorin
Katherine Angel arbeitet an der Queen Mary Universität in London. Sie untersucht die Geschichte weiblicher Sexualstörungen und hat unter anderem Fachartikel für »The Independent« und »Prospect« geschrieben.
Die Autorin lebt in London.

Aus dem Buch:

Liebesglück kann ein Geschenk des Zufalls sein; zum Teil eine Frage des richtigen Zeitpunkts. Vor ein paar Jahren tauchte ich aus einem unterirdischen Bereich auf- das Unglücklichsein fortgehoben - auf und davon! - ein Ballon von der Leine gelassen - und entrollte mich aus einer Lähmung des Denkens, Fühlens, Erinnerns.
Ich schnurrte nur so.
Und dann begegnete ich ihm. Die erste Nacht: Ich stieg hinten auf seine Vespa, er beugte sich zurück, packte meine nackten, unsicheren Beine und setzte sie auf die Fußrasten. Auf seiner Couch wickelten wir einander aus; und dann stand er auf, hob mich hoch, trug mich ins Nebenzimmer und warf mich aufs Bett.
Ich wurde von Wonne überflutet.
Ich war ein Wölkchen, und ich war frei.

Er war still; ich war geschwätzig.
Eines Nachts, als draußen ein frühes Morgenlicht heraufzog und wir ineinander verschlungen lagen, ein verschwommenes Gebilde aus Haut und Gliedern und Mündern, sprach ich träumerisch davon, wie sehr ich es liebte, wenn seine große Gestalt beim Sex über mir aufragte; wie sehr ich es liebte, wenn seine starken Arme meinen Hals umschlangen, während er von hinten in mich eindrang; wie ich es liebte, seine Kraft zu spüren, wenn er mich fickte - ja, er fickte mich, denn das - wir wollen nicht verschämt oder unehrlich sein - war es, was eindeutig hier geschah.
Ich verlor mich in meinen Träumereien. Er sah mich an, zog den Kopf zurück, wie um einen klareren Blick zu gewinnen, und sagte: Du bist eigentlich gar keine Feministin, stimmt's?
Ich lachte.
Ich erklärte nicht warum.

Was mir gefällt - oder was ich mir gern anschaue, und das ist vielleicht nicht dasselbe -, ist verrücktes Zeug mit Pep und Klasse und gerade so weit von den schmierigen Assoziationen von Porno (»Porno«, nicht »Pornografie«) entfernt, dass ich mich ohne Schaudern auf dem schmalen Grat schierer instrumentaler Lust bewegen kann. Stilisierte Körper voller Intelligenz und Spielfreude; in höchstem Maß ästhetisiert bis hin zum Leugnen dieser Ästhetik. Fotografen mit Talent und Witz - spielerisch, voll postmoderner Intertextualität!
Diese intelligente, ironische Ästhetik erfüllt eine klare Funktion: Sie wirkt nicht wie Porno. Oder nicht so, wie Porno meiner Meinung nach wirken soll, und das heißt: misogyn, zwanghaft, schäbig.

Doch misogyner, zwanghafter, schäbiger Porno ist nicht notwendig unerotisch - es kommt eben darauf an, was man unter erotisch versteht. Diese kerligen, wortkargen Männer und wackelnden Hochglanzfrauen bei ihren desolat-dämlichen Stelldichein - die sind mir peinlich. Da muss ich mich kringeln vor Lachen, muss mir die Augen zuhalten und fühle mich manchmal auch beleidigt. Ihre Verrichtungen haben etwas Totes, Freudloses an sich. Sie geben mir ein Gefühl innerer Leere, einer leichten Bedrücktheit - ein Gefühl, das vielleicht Ähnlichkeit hat mit der Trostlosigkeit, dem heftigen, nagenden Schmerz des Alleinseins, der, nach den Schilderungen männlicher Freunde und Liebhaber, manchmal zurückbleibt nach einem Orgasmus allein oder mit einem Menschen, den sie nicht lieben.

Wednesday, December 18, 2013

"Angezogen" von Barbara Vinken

 

Rezension Dagmar Buchta 15. Dezember 2013, dieStandard.at

Mit "Angezogen" legt Barbara Vinken eine Geschichte der Mode vor, die abseits üblicher Erzählstile von Entfremdung und Fetischisierung berichtet

Den Wandel der Mode als bloße Launenhaftigkeit exzentrischer DesignerInnen abzutun sei weit gefehlt, meint Barbara Vinken. Denn ganz gleich, ob wir modebewusst sind oder nicht, bei der Kleidung folgen wir - meist ahnungslos - bestimmten Regeln, denen zu entkommen gar nicht so leicht ist. In ihrem neuen Buch "Angezogen" beschreibt die deutsche Literaturwissenschafterin die wechselnden Moden als ein differenziertes Zeichensystem, das die kulturellen und gesellschaftspolitischen Bedingungen der Geschlechter widerspiegelt und in ihrem Ausdruck sogar noch verstärkt.

Am Beispiel der Unisexmode trete das Zusammenspiel besonders deutlich zutage. Obwohl sich die Kleidung von Frauen und Männern seit der Moderne angenähert hat, heißt das noch lange nicht, dass sich beide gleich anziehen. Ein Blick auf die herkömmliche Streetwear genügt, um diese These zu verifizieren: Männer treten nach wie vor zum überwiegenden Teil im Anzug oder in Hose, Sakko und Blouson auf, meist in gedeckten Farben. Also gewissermaßen uniformiert und unscheinbar, wobei - und das ist laut Vinken am prägnantesten - ihre Geschlechtlichkeit im Sinne sexueller Attribute unkenntlich, ja nahezu verborgen bleibt. Im Vergleich dazu offenbare die Frauenkleidung das genaue Gegenteil.

Gescheiterte Befreiungsversuche

Auch wenn Frauen in "männliche Kleidungsstücke" wie Hosen und Anzüge schlüpfen, sei es ihnen unmöglich, das "Weiblich-Weibische" hinter sich zu lassen und androgyn oder asexuell zu werden, wie es emanzipatorische Befreiungsbestrebungen beabsichtigt hatten. Der Clou dabei: Die Versuche des Abwerfens alter Einengungen in der weiblichen Mode wie beispielsweise des Korsetts hätten zu immer wieder neuen Inszenierungen zur Betonung der weiblichen Silhoutte geführt. So rückten im Falle der Hosen nicht nur die Beine, die nun schlank, lang und länger sein sollen, ins für alle sichtbare Blickfeld, sondern auch Po und Genitalien. Diese Angleichung an "Männlichkeit" habe paradoxerweise, entgegen der ursprünglichen Intention, mehr als je zuvor den weiblichen Körper in den Fokus der genauen Betrachtung gestellt, von dem nun verlangt werde, trainiert und mit dezenten Muskeln ausgestattet zu sein. Dadurch sei eiserne Disziplin mit dem ganzen Programm an Sport und Diäten für die Frauen zum neuen Auftrag geworden.

Die Unisexmode sei daher eine extrem widersprüchliche Angelegenheit, konstatiert Vinken. Die angestrebte "emanzipatorische Bewegungsfreiheit für Frauen" - Hosen, kurze Röcken, offenes Haar etc. - sei folglich ein Eigentor. Auch heute noch ordne sich die Form der praktischen Funktion nicht unter, im Gegenteil: Sie schiebe sich um ihrer selbst willen in den Vordergrund: "Weibliche Mode stellt immer zur Schau, und das vielleicht gerade dann am effektivsten, wenn sie ostentativ darauf zu verzichten scheint".

Unisex verschärft die Differenz

Die Geschichte der weiblichen Mode sei daher keine "Erfolgsgeschichte einer Subjektwerdung nach männlichen Mustern", sondern erzähle "vom Objektwerden des Weiblichen, von Entfremdung, Verdinglichung und Fetischisierung". Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sei Weiblichkeit im Rahmen der modernen Konsum- und Warenkultur zum Spektakel verkommen. Ob als Revue-Girls, Chorus-Girls, Show-Girls - anziehend durch ihren Sex-Appeal, werden Frauen seither zur Schau gestellt wie Waren. In dieser Perspektive würde die Mode hemmungslos die sinnliche Erscheinung der Frauen, die nichts anderes mehr sei als die hergerichtete Hülle, bekräftigen. "Während Männer zu selbstbestimmten, geschichtsmächtigen Subjekten geworden sind, ist Weiblichkeit zur Ware und die Ware weiblich geworden", so die Autorin, die in der Entfremdung und Verdinglichung der Mode "die freudlose Rückseite der Emanzipation" ortet. Speziell an der Unisexmode würde die Gleichheit von Frau und Mann zur Farce werden. Sie sei nicht nur "alles andere als unisex", sondern unterstreiche im Gegenteil gerade das, was die Geschlechter trennt, und verschärfe dadurch die Differenz.

Wenn Kleider sprechen

"Was immer eine Frau in der Öffentlichkeit sagt, ihre Kleider scheinen dabei in einer Weise mitzusprechen, die bei Männern undenkbar ist. Nicht was sie sagt, sondern was sie trägt, zählt." Ihre Kleider, ihre Frisur, ihr Aussehen insgesamt ist nach wie vor Kommentare wert, beim Mann hingegen wird darauf nur selten ein Wort verschwendet. Emanzipation hin oder her, schlussfolgert Barbara Vinken, es sehe ganz danach aus "dass wir uns noch in der Geschlechterordnung des 19. Jahrhunderts befinden. Unisex ist vielleicht Wunschvorstellung oder Horrorszenario, aber sicher eines nicht: Realität."

Woran das wohl liegen mag? Diese Antwort bleibt die Autorin leider schuldig. Obwohl sie zu Beginn ihres Buches schreibt: "Der Modewandel hat System. Fragt sich nur welches?", hält sie sich in ihrer immerhin über 230 Seiten starken Abhandlung nicht damit auf, die Zusammenhänge von Mode und den sie möglicherweise beeinflussenden gesellschaftspolitischen Faktoren näher zu durchleuchten bzw. auch auf jene Subkulturen zu verweisen, in denen geschlechterduale Mode-Diktate schon längst unterlaufen werden. Dennoch: ein überaus interessantes und kritisches Buch.

Quelle

Saturday, February 2, 2013

Pierre Bourdieu: „Politik. Schriften zur Politischen Ökonomie 2“

Quelle taz.de 


 Das Monopol der Politiker

Eine neu erschienene Textauswahl zeigt den französischen Kultursoziologen Pierre Bourdieu als scharfen Analytiker des Politischen.
Pierre Bourdieu als bekannten Theoretiker vorzustellen, wäre noch untertrieben. Um die Jahrtausendwende war kaum ein europäischer Intellektueller so prägend wie der französische Soziologe. Und auch elf Jahre nach seinem Tod bleibt er ein über die Grenzen seines Faches hinaus einflussreicher Wissenschaftler. Pädagogen, Philosophen oder Soziologen stützen sich auf seine Konzepte, von ihm geprägte Begriffe wie der Habitus haben längst Eingang in die Alltagssprache gefunden. Bourdieu zählt zu den weltweit am meisten zitierten Autoren.
Als politischen Theoretiker gilt es ihn allerdings noch zu entdecken. Während in Frankreich vergangenes Jahr eine voluminöse Sammlung seiner Vorlesungen über den Staat erschien, reduziert man den politischen Bourdieu hierzulande oft auf sein intellektuelles Engagement, für das er wahlweise gerühmt oder geschmäht wird.
Seine wissenschaftliche Arbeit gilt eher als implizit politisch, etwa wenn sie schonungslos die Elitenreproduktion im Bildungswesen beschreibt. Tatsächlich aber hat sich der oft als Kultursoziologe etikettierte Bourdieu auch in analytischer Absicht wiederholt der Politik gewidmet. Eine Auswahl dieser Texte liegt nun im Suhrkamp Verlag vor. Sie besticht durch eine sinnvolle Zusammenstellung, bei der die verstreut erschienenen Aufsätze einander bestens ergänzen.
Politik hat ihre eigenen Regeln
Bourdieu begreift die Politik als Feld und damit als Sphäre innerhalb der Gesellschaft, die ähnlich wie die Kunstwelt oder die Republik der Intellektuellen ihren eigenen, oft ungeschriebenen Regeln gehorcht. Sie gründet darauf, dass die Bürger ihre Macht an eine professionelle Schicht delegieren, die in ihrem Namen entscheidet. Diesen scheinbar selbstverständlichen Akt der politischen Repräsentation untersucht Bourdieu in seinen Texten genauer. Seine stark verdichteten und hoch abstrakten Aufsätze legen die unhinterfragten Voraussetzungen der alltäglichen Normalität des politischen Betriebes offen.
So erkennt Bourdieu in der Delegation an die Politprofis eine Enteignung. Mit seinem Kreuz auf dem Stimmzettel überlässt der Bürger ihnen alle Macht. Verweigern kann er dies nur durch Enthaltung oder Nichtwahl. Das wiegt umso schwerer, je weniger die Einzelnen selbst in die Politik eingreifen können. Gerade den Unterklassen fehlen dafür meist die Ressourcen. Ihnen bleibe nur, „zu schweigen oder andere für sich sprechen zu lassen“. Schweigen sie jedoch, gelten sie schnell als apathisch oder inkompetent. Zu Unrecht, argumentiert Bourdieu, eher sei die Nichtwahl ein „Protest gegen das Monopol der Politiker“.
Der Soziologe stimmt allerdings nicht in jene Klage ein, die hinter der Herausbildung einer politischen Klasse primär Korruption vermutet oder die Politiker ohnehin für bloße Erfüllungsgehilfen der Unternehmer hält. Für ihn ergibt sich die Abschottung der Parlamentarier schlichtweg aus der Logik des Feldes. Wer von der Politik leben will, muss für sie leben, sprich: die gängige Redeweise oder das entsprechende Auftreten annehmen und so Zugehörigkeit signalisieren.
Verbundenheit unter Eingeweihten
So entsteht unter Abgeordneten, Hauptstadtjournalisten und Politikwissenschaftlern eine Verbundenheit unter Eingeweihten. Neue werden kritisch beäugt, weil sie die Regeln des Spiels infrage zu stellen drohen. Der Konsens liegt daher im Interesse jener, die mit dem Status quo gut leben können. Sie bemühen sich, den politischen Charakter von Entscheidungen zu leugnen, um sie so der Diskussion zu entziehen.
Jegliche Veränderung beginnt mit Debatte und Widerspruch: „Politische Subversion setzt kognitive Subversion voraus.“ Auch an dieser Stelle erweisen sich Bourdieus Texte als bemerkenswert aktuell. Seine Kritik des entpolitisierten Diskurses, der die Alternativlosigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse betont, stammt von 1981. In Frankreich regierte seinerzeit François Mitterrand mit einer Koalition aus Sozialisten und Kommunisten, in den USA und Großbritannien hatte die neoliberale Wende gerade erst begonnen.
Dennoch liest sich vieles bei Bourdieu wie eine Beschreibung unserer Gegenwart: eine Lektüre, die den Blick schärft, nicht nur in Wahljahren. 

Pierre Bourdieu: „Politik. Schriften zur Politischen Ökonomie 2“. 
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 374 Seiten, 17 Euro

Sunday, March 25, 2012

Die Geschlechter Lüge

Autorin: Cordelia Fine - Wikipedia  Homepage

Viele bekannte populärwissenschaftliche Bestseller behaupten Männer und Frauen haben unterschiedliche Gehirne und daher unterschiedliche Begabungen. Cordelia Fine entlarvt, wie unter dem Deckmantel der Wissenschaft fehlerhafte Untersuchungen, oberflächlich gedeutete Forschung und vage Beweise zu angeblichen Tatsachen gemacht wurden. Sie zeigt, wie unser Leben als Mann und Frau stark von der subtilen Macht der Stereotypen beeinflusst wird, selbst wenn wir sie nicht gut heißen. Doch unser Gehirn entwickelt sich vor allem durch psychologische Einflüsse, Erfahrungen und Tätigkeiten. Und für Männer und Frauen gilt: Alles ist möglich!

Vorwort

Ich darf Ihnen Evan vorstellen.
Wenn Jane, seine Frau, verstimmt ist, setzt er sich neben sie auf die Couch und liest eine Zeitung oder ein Buch, »um sich von seinen eigenen unguten Gefühlen abzulenken«, wobei er zerstreut einen Arm um Janes Schultern legt. Nachdem er einige Jahre an diesem Problem gearbeitet hat, sieht er sich allmählich zunehmend in der Lage, ihr auf etwas herkömmlichere Art seine Anteilnahme zu vermitteln. Die politisch Korrekten und/oder wissenschaftlich Uninformierten unter meinen Lesern fragen sich jetzt wahrscheinlich, warum Evan sich so sonderbar verhält. Liegt es daran, dass er Jane nicht wirklich liebt? Erholt er sich nur langsam von einem Zwischenfall, der ihn zutiefst traumatisiert hat? Wurde er bis zum Alter von 13 Jahren von Wölfen aufgezogen?

Alles falsch, Evan ist einfach nur ein ganz normaler Mann mit einem ganz normalen Männergehirn, das in Sachen Empathie eben komplett ungünstig verdrahtet ist. Dass ein simpler Tröstungsakt in Evans Verhaltensrepertoire nicht vorkommt, liegt an den Neuronen, mit denen die Natur ihn ausgestattet hat: Neuro-nen, die eine verheerende »Testosteronmarinierung« über sich ergehen lassen mussten; Neuronen, denen die »angeborene Fähigkeit, aus einem Gesichtsausdruck oder einem Tonfall emotionale Nuancen herauslesen zu können«, abgeht, wie sie die Neuronen von Frauen beherrschen; kurz: männlichen Neuronen.

Evan ist eine von mehreren ulkigen Figuren, die Louann Brizendines Bestseller Das weibliche Gehirn bevölkern. In ihrer Darstellung ähnelt die Einfühlungskompetenz von Männern einem ungeschickten Touristen, der außerstande ist, an seinem Ferienort eine Speisekarte zu entziffern, und sie steht in schroffem Gegensatz zu der coolen Professionalität, die Frauen auf diesem Gebiet mitbringen. Nehmen Sie als Beispiel nur etwa Sarah. Sie kann »erkennen, was [ihr Mann] empfindet, und zwar häufig schon bevor es ihm selbst bewusst ist«. Wie eine Hellseherin, die weiß, dass Sie die Karo-Sieben ziehen werden, noch bevor Sie sie auch nur einen Millimeter aus dem Stapel herausbewegt haben, kann Sarah ihren Mann mit ihrer speziellen Fertigkeit verblüffen, noch bevor er sich selbst darüber im Klaren ist, zu wissen, was er fühlt. (Und TUSCH! Das ist doch genau dein Gefühl!) Dabei ist Sarah keine Hellseherin vom Rummelplatz. Sie ist einfach nur eine Frau und als solche offenbar mit der außerordentlichen Gabe ausgestattet, Gedanken zu lesen - eine Gabe, die allen Inhabern eines weiblichen Gehirns eignet:
Mit seinen Manövern, die einem Kampfflugzeug alle Ehre machen würden, ist Sarahs weibliches Gehirn eine Hochleis-tungs-Gefühlsmaschine. Es ist dafür konstruiert, in jedem Augenblick die nicht sprachlichen Signale für die tiefsten Gefühle anderer zu verfolgen.

Und was befähigt das weibliche Gehirn auf so bemerkenswerte Weise, sich auf die Fährte der Gefühle anderer Leute zu setzen, als handele es sich um in die Enge zu treibende Beutetiere? Warum, so fragen Sie sich bestimmt, haben männliche Neuronen derartige magische Fähigkeiten nicht, warum sind sie stattdessen eher in den Männerdomänen Naturwissenschaft und Mathematik zu Hause? Die Antwort variiert je nach aktueller Erkenntnislage - es kann an der Testosteronmenge im Mutterleib liegen, die die neuronalen Schaltkreise des männlichen Fötus verwüstet; am überdimensionalen weibliehen Gehirnbalken; an der effizient spezialisierten Organisation des männlichen Gehirns; am primitiven subkortikalen Emotionsschaltkreis von Jungen oder an der im weiblichen Gehirn nur spärlich ausgebildeten weißen Substanz mit der Funktion räumlich-visuellen Erkennens - die zugrunde liegende Botschaft ist immer dieselbe: Es gibt gravierende, nachweisbare Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen.

Nehmen wir an, Sie haben Eheprobleme. Dann greifen Sie doch zu dem Werk What Could He Be Thinking? (Was denkt er wohl?), verfasst von dem »Pädagogen, Therapeuten, Unternehmensberater und... Bestsellerautor« Michael Gurian, und auch Sie werden der Erleuchtung teilhaftig, die der Autor mit seiner Frau Gail erlebte, als er MRT- und PET-Scans des männlichen und weiblichen Gehirns studierte:
Ich sagte: »Wir dachten, wir wüssten eine ganze Menge über unseren Partner, aber wahrscheinlich war das einfach nicht genug.« Und Gail meinte: »Es'gibt wirklich so etwas wie ein >männliches< Gehirn. Mit einer MRT können Sie schlecht diskutieren.« Wir stellten fest, dass unsere Kommunikation, die Art, wie wir uns gegenseitig beistanden und unsere Auffassung von unserer Beziehung gerade einmal anfing zu funktionieren, und das nach sechs Jahren Ehe.

Die Informationen aus diesen Scans haben nach Aussage Gu-rians seine »Ehe gerettet«.
Und Ehegatten sind beileibe nicht die Einzigen, die man nach Aussage Gurians mit den Segnungen der Erkenntnisse aus der Hirnwissenschaft besser verstehen kann. Der Klappentext des einflussreichen Buches Why Gender Matters (Warum die Geschlechtszugehörigkeit eine Rolle spielt) des Arztes Leonard Sax (er ist der Gründer und Geschäftsführer der National Association for Single Sex Public Education [NASSPE]) verspricht, die Leser seines Buchs »auf Veranlagung beruhende Unterschiede [zwischen den Geschlechtern] erkennen und verstehen« zu lehren. Mit der Lektüre seines Buchs werden die Leser »jedem Mädchen und jedem Jungen dazu verhelfen können, ihr volles Potential umzusetzen«. Ganz ähnlich formuliert es eine neuere Veröffentlichung des Gurian-Instituts: Eltern und Lehrer erfahren, dass »Forscher [unter Einbeziehung von MRT] buchstäblich sehen können, was wir schon wissen: Es gibt fundamentale Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die sich bereits in der Struktur des menschlichen Gehirns niederschlagen.« Für Gurian folgt daraus: »Wer mit einer Klasse oder einer Familie zu tun hat und nicht weiß, wie das Gehirn arbeitet und wie unterschiedlich männliche und weibliche Gehirne lernen, der bleibt hinter dem, was wir als Lehrer, Eltern und Bezugspersonen von Kindern leisten sollten, weit zurück.«

Von einem vertieften Wissen um die Geschlechtsunterschiede im Gehirn können angeblich sogar Firmenbosse profitieren. Das kürzlich erschienene Buch Leadership and the Sexes »verbindet den aktuellen Wissensstand um die Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Gehirn mit jedem einzelnen Business-Bereich« und »bietet Handreichungen aus der Neurowissenschaft an, mit denen der Leser Einblick in das Gehirn von Männern und Frauen gewinnen und so sich selbst und andere besser verstehen kann«.

Der Text auf dem Umschlag verkündet, dass das im Buch enthaltene »Gender-Wissen« »erfolgreich bei so unterschiedlichen Firmen wie IBM, Nissan, Proctor [sie] Gamble, Deloitte 8tTouche, Price WaterhouseCoopers, Brooks Sports, und vielen anderen eingesetzt« wurde.
Nun werden Sie sich womöglich fragen, ob man überhaupt realistischerweise bei zwei Sorten von Menschen mit derart unterschiedlichen Gehirnen mit ähnlichen Werten, Fähigkeiten, Leistungen, Lebensstilen rechnen darf. Wenn es unsere unterschiedlich strukturierten Gehirne sind, die den Unterschied zwischen den Geschlechtern ausmachen, dann können wir uns vielleicht einfach ganz entspannt zurücklehnen. Falls Sie eine Lösung für die anhaltende Ungleichbehandlung der Geschlechter suchen, dann hören Sie auf, argwöhnisch auf die Gesellschaft zu stieren - werfen Sie statt-dessen doch bitte einen Blick auf diese Computertomographie.

Wenn es doch nur so einfach wäre.
Vor ungefähr 200 Jahren verfasste der englische Geistliche Thomas Gisborne ein Buch, das trotz seines - nach meinem Geschmack - reichlich unattraktiven Titels An Enquiry into the Duties of the Female Sex (Eine Untersuchung zu den Pflichten des weiblichen Geschlechts) ein Bestseller seines Jahrhunderts wurde. Gisborne legte darin säuberlich die unterschiedlichen geistig-seelischen Fähigkeiten dar, die nötig sind, um der Rolle eines Mannes bzw. einer Frau gerecht zu werden:
Die Wissenschaft der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und der Wirtschaftspolitik; die Ausübung der Regierungsgewalt mitsamt all ihren exekutiven Funktionen; die schwer verständliche Forschungstätigkeit der Gelehrten,... das Wissen, das auf dem weiten Feld des Handels unverzichtbar ist. ..all diese und andere Studien, Betätigungen und Berufe, die hauptsächlich oder vollständig Männern zugeschrieben werden, setzen die Anstrengungen eines Geistes voraus, der mit der Fähigkeit genauen, umfassenden Denkens begabt ist so wie der Bereitschaft, energisch und unablässig Gebrauch davon zu machen.

Und der Autor argumentiert weiter, dass es nur natürlich war, dass diese Qualitäten »dem weiblichen Geist mit eher sparsamer Hand zugeteilt« wurden, denn schließlich sind Frauen bei der Erfüllung ihrer Pflichten weniger auf derartige Talente angewiesen. Verstehen Sie das nicht falsch: Frauen sind nicht minderwertig, sie sind einfach anders. Denn wenn es um das geht, was Frauen in ihrem eigenen Bereich leisten, dann ist »die Überlegenheit des weiblichen Geistes unübertrefflich«, verfügt die Frau doch über »die Macht, die Stirn des Gelehrten zu glätten, die erschöpften Kräfte des Weisen zu erfrischen und im gesamten Familienkreis das belebende und reizende Lächeln des Frohsinns erstrahlen zu lassen«. Man darf es als äußerst glückliche Fügung bezeichnen, dass diese weiblichen Talente so punktgenau mit den Pflichten des weiblichen Geschlechts übereinstimmen.

Machen wir nun einen Zeitsprung von 200 Jahren und wenden uns den einleitenden Sätzen von The Essential Dif-ference (Der entscheidende Unterschied) zu, einem sehr einflussreichen Buch vom Beginn des 21. Jahrhunderts über die Psychologie von Männern und Frauen - und was wir dort in den Worten des Universitätspsychologen Simon Baron-Cohen formuliert finden, ist im Prinzip dasselbe wie bei Gisborne:
Das weibliche Gehirn ist vor allem aufEmpathie angelegt. Das männliche Gehirn ist vor allem auf das Verständnis und die Errichtung von Systemen angelegt.
Genau wie Gisborne ist Baron-Cohen überzeugt, dass Menschen mit dem »männlichen Gehirn« die besseren Naturwissenschaftler, Ingenieure, Banker und Anwälte sind, weil sie über die Fähigkeit verfügen, sich auf unterschiedliche Aspekte eines Systems zu konzentrieren (sei es eines biologischen, physikalischen, finanztechnischen oder rechtlichen Systems) und zudem noch den Antrieb haben, verstehen zu wollen, wie es funktioniert. Und daneben findet sich auch die beruhigende Versicherung wieder, dass Frauen ebenfalls ihre spezifischen Talente haben. In einer Geste, die als »Meisterstück in punkto Herablassung« beschrieben wurde, erklärt Baron-Cohen, der Hang des weiblichen Gehirns, Gedanken und Gefühle anderer zu verstehen und einfühlsam auf sie zu reagieren, disponiere dieses Gehirn in idealer Weise für die beruflichen Tätigkeiten, in denen sich die traditionelle Fürsorgehaltung der Frau entfalten kann: »Menschen mit einem weiblichen Gehirn geben die besten Berater, Grundschullehrer, Krankenschwestern, Betreuer, Therapeuten, Sozialarbeiter, Mediatoren, Moderatoren oder Gruppenleiter ab.«

Der Philosoph Neu Levy fasst Baron-Cohens These prägnant zusammen:
Im Allgemeinen findet die weibliche Intelligenz dort ihr ideales Betätigungsfeld, wo es darum geht, ein behagliches Umfeld zu schaffen, während die Männer sich stärker für das Verstehen der Welt und den Bau und die Reparatur der Dinge einsetzen, die wir für unsere Existenz in dieser Welt brauchen,
und wem fiele bei diesen Worten nicht Gisbornes Frauchen aus dem 18. Jahrhundert ein, das eifrig die Stirn seines gelehrten Gatten glättet?

Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass Baron-Cohen mit allem Nachdruck darauf hinweist, dass nicht sämtliche Frauen ein weibliches, einfühlsames Gehirn haben, so wenig wie alle Männer ein männlichsystematisierendes. Allerdings unterscheidet ihn dieses Zugeständnis nun auch wieder nicht
so sehr von traditionellen Beschreibungen der Unterschiede zwischen den Geschlechtern, wie er es wohl gern hätte. Bereits im Jahr 1705 beobachtete die Philosophin Mary Asteil, dass den Frauen, die in männlichen Domänen Großes vollbracht haben, von Männern bescheinigt wurde, ihr Verhalten sei »untypisch für ihr Geschlecht. Damit soll den Lesern wohl signalisiert werden, dass es nicht Frauen waren, die diese großen Leistungen erbrachten, sondern Männer in Reifröcken! «Und zwei Jahrhunderte später wurde scharfsinnigen Frauen bescheinigt, dass sie »»männlichen Geist( besäßen«. Ein Autor äußerte sich im Quarterly Journal of Science folgendermaßen:
Die Naturwissenschaftlerin ist ebenso wie die Athletin eine Anomalität, eine Ausnahmeerscheinung, die eine Stellung zwischen den beiden Geschlechtem einnimmt Im einen Fall hat sich das Gehirn, im anderen die Muskulatur abnormal entwickelt.

Baron-Cohen würde natürlich eine Frau, die einen starken Hang zur Systematisierung hat, nicht als »abnormal« bezeichnen. Aber es schwingt doch ein deutlicher Unterton von De-platziertheit mit, wenn von einem männlichen Gehirn im Körper einer Frau oder einem weiblichen Gehirn im Schädel eines Mannes gesprochen wird.

Allein schon das solide Beharrungsvermögen der Idee, dass männliche und weibliche Psychologie grundsätzlich verschieden sind, nötigt einem Respekt ab. Gibt es denn nicht wirklich psychologische Unterschiede, die in den jeweils geschlechtsspezifischen Gehirnen fest verdrahtet sind und die erklären, warum selbst in den egalitärsten Gesellschaften des 21. Jahrhunderts das Leben von Frauen und Männern immer noch bemerkenswert unterschiedlich verläuft?

Für viele Menschen bringt die Erfahrung, Eltern zu werden, die vorgefasste Meinung zum Verschwinden, dass Jungen und Mädchen, wenn sie auf die Welt kommen, mehr oder weniger gleich sind. Der Gender-Forscher Michael Kimmel erzählt von einem alten Freund, der, als Michael Vater wurde, sarkastisch bemerkte: »Jetzt wirst du selbst feststellen, dass alles rein biologisch ist!« Und was könnte dafür ein zwingenderer Beweis sein, als wenn man als Eltern am eigenen Nachwuchs erfährt, wie die Sprösslinge die gutgemeinten Versuche einer geschlechtsneutralen Erziehung über den Haufen werfen? Die Soziologin Emily Kane hat festgestellt, dass diese Erfahrung weit verbreitet ist. Viele Eltern von Kleinkindern - besonders die Angehörigen einer weißen mittleren und oberen Mittelschicht - kamen durch ein schlichtes Ausschlussverfahren zu dem Ergebnis, dass die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen biologisch bedingt sind. Sie waren überzeugt, sich gegenüber ihren Kindern geschlechtsneutral verhalten zu haben; es blieb also die »Alternative Biologie«, wie Kane es bezeichnet, als einzige Erklärungsmöglichkeit übrig.

Und genauso geht es Beobachtern, die die Gesellschaft insgesamt in den Blick nehmen: Sie fallen in ganz ähnlicher Weise auf die Biologie als Erklärungsmodell zurück. In ihrem letzten Buch Das Geschlechter-Paradox setzt sich die Journalistin und Psychologin Susan Pinker mit der Frage auseinander, warum »hochbegabte, qualifizierte Frauen mit den besten Chancen und Wahlmöglichkeiten offenbar nicht in gleicher Zahl die gleichen Wege einschlagen] wie die Männer in ihrem Umfeld. Auch nachdem die Barrieren gefallen sind, verhalten sie sich nicht wie Klone der Männer.« Pinker fragt sich angesichts dieses für einige überraschenden Befunds, »ob Biologie nicht vielleicht doch - wenn auch nicht gerade Schicksal, so doch einen gravierenden, bedeutenden Ausgangspunkt für die Diskussion über Geschlechtsunterschiede darstellt«.

Die Kluft zwischen den Geschlechtern muss nach ihrer Meinung teilweise »neurologische oder hormonelle Wurzeln« haben. Nun, da die Schranken einer sexistischen Umwelt zunehmend verschwinden, gibt es immer weniger Sündenböcke in der Gesellschaft, die man für die nach wie vor bestehenden Ungleichheiten und die Ungerechtigkeiten auf dem Arbeitsmarkt verantwortlich machen könnte. Und da wir nicht länger äußeren Einflüssen die Schuld zuschieben können, richten sich aller Augen auf das Innere - auf die Unterschiede in der Struktur oder der Funktionsweise von weiblichen und männlichen Gehirnen. Mit ihrem anders strukturierten Gehirn entscheiden sich viele Frauen gegen das, was Pinker die »abstrakte Grundform« des männlichen Lebensmodells nennt - bei dem die Karriere wichtiger ist als die Familie -, und entwickeln andere Interessen.

Die per Ausschlussverfahren erreichte Erkenntnis, dass es hirnphysiologisch bedingte psychische Unterschiede zwischen den Geschlechtern geben muss, genießt offensichtlich auch eindrucksvolle Unterstützung von Seiten der Naturwissenschaften. Da wäre zunächst der Anstieg des Testosterons im Mutterleib, der während der Schwangerschaft bei männlichen, aber nicht bei weiblichen Babys stattfindet.

Anne Moir und David Jessel, die Autoren von Brain Sex - Der wahre Unterschied zwischen Mann und Frau, beschreiben diesen kritischen Augenblick folgendermaßen:
... in der sechsten oder siebten Woche nach der Empfängnis »entscheidet« sich der ungeborene Säugling, ob er männlich oder weiblich »werden will«, und das Gehirn beginnt, ein männliches oder weibliches Muster anzunehmen. Das, was in diesem hitischen Stadium im Dunkel des Mutterleibs geschieht, legt die Struktur und den Aufbau des Gehirns fest, und dieser Vorgang wiederum bestimmt die Art und das Wesen des Denkens.

Wie andere Verfasser populärwissenschaftlicher Bücher setzen uns auch Moir und Jessel nicht der Gefahr aus, die psychologische Tragweite dessen zu unterschätzen, was da »im Dunkel des Mutterleibs« passiert. Louann Brizendine gibt sich damit zufrieden, einfach festzustellen, dass der Effekt des prä-natalen Testosterons auf das Gehirn »unser biologisches Schicksal definiert«, wohingegen Moir und Jessel sich unverhohlen schadenfroh über die Sachlage auslassen. »Säuglinge haben bereits bei ihrer Geburt ihren eigenen männlichen oder weiblichen Kopf. Sie haben bereits im Mutterleib ihre Entscheidung getroffen, in sicherer Obhut vor den Legionen von Sozialingenieuren, die sie schon ungeduldig erwarten.

Hinzu kommen die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen. Die raschen Fortschritte bei den bildgebenden Verfahren ermöglichen es Neurologen, immer detaillierter die Geschlechtsunterschiede im Aufbau und der Funktionsweise des Gehirns auszumachen. Wenn unsere Gehirne sich unterscheiden, muss das dann nicht auch zwangsläufig auf das Denken zutreffen? Beispielsweise äußerte im Rahmen einer Dokumentation in der New York Times zum Thema der sogenannten Aussteigerinnen-Revolution (d. h. zu Frauen, die ihre Karriere abbrechen, um sich ausschließlich der Erziehung ihrer Kinder zu widmen) eine Interviewte gegenüber der Journalistin Lisa Belkin, dass »»doch alles in der MRT erkennbar ist«, und sie verwies auf Studien, die zeigen, dass die Gehirne von Frauen und Männern jeweils anders »aufleuchten«, wenn sie denken oder fühlen. Und derart verschiedene Gehirne, so die Argumentation meiner Gesprächspartnerin, müssen doch zwangsläufig auch andere Entscheidungen treffen.«

Die neurowissenschaftlichen Entdeckungen, von denen wir fast täglich in Zeitungen, Zeitschriften, Büchern, teilweise sogar in Fachzeitschriften lesen, erzählen eine Geschichte von zwei Gehirnen, die sich grundsätzlich unterscheiden und die überzeitliche und unveränderliche psychische Unterschiede /wischen den Geschlechtern zur Folge haben: eine unwiderstehliche Geschichte, die eine saubere, befriedigende Erklärung und Rechtfertigung des Status quo liefert.

An diesem Punkt sind wir allerdings wahrhaftig nicht zum ersten Mal.
Im 17. Jahrhundert waren Frauen, was die Ausbildung anging, empfindlich benachteiligt; so waren sie beispielsweise außerstande, sich politisch zu entwickeln, »weil sie keine Erziehung in politischer Rhetorik genossen hatten, weil sie weder zur Bürgerschaft noch zur Regierung Zugang hatten und weil allgemeine Übereinstimmung bestand, dass Frauen sich in politische Angelegenheiten nicht einmischen sollten - es sei für eine Frau sogar unschicklich, zu schreiben.« Doch obwohl die intellektuelle Entwicklung der Frauen so - für unsere modernen Augen offensichtlich - behindert wurde, ging die allgemeine Annahme dahin, dass Frauen von Natur aus schwächer seien. Während wir im Rückblick ganz klar erkennen, dass der anscheinend überlegene männliche Verstand und die Leistungen von Männern auf etwas anderes zurückzuführen waren als ihre naturgegebene neuronale Ausstattung, war es zu jener Zeit durchaus notwendig, daraufhinzuweisen. Eine Feministin des 17. Jahrhunderts formulierte es so: »Ein Mann sollte sich nicht für klüger halten als eine Frau, wenn er seinen Vorsprung einer besseren Ausbildung und leichterem Zugang zu Informationen verdankt; er würde sich ja auch nicht seiner Kühnheit rühmen, wenn er einen anderen schlagen würde, dessen Hände gefesselt sind.«

Wir haben bereits gesehen, dass Thomas Gisborne im 18. Jahrhundert es nicht für nötig befand, eine alternative Interpretation seiner Beobachtungen von den sozialen Unterschieden zwischen den Geschlechtern in Betracht zu ziehen. Die Schriftstellerin Joan Smith stellte fest:
Sehr wenige Frauen, die im England des späten 18.Jahrhunderts aufwuchsen, hätten die Grundlagen der Jurisprudenz oder der Navigation verstanden, aber das lag nur daran, dass ihnen der Zugang dazu verweigert worden war. So offensichtlich das für einen modernen Beobachter ist, Hunderttausende von Lesern, die Gisbornes Buch kauften, akzeptierten seine Argumentation unbesehen, weil sie genau ihren eigenen Vorurteilen entsprach.

Aber auch im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert hatten Frauen keinen gleichberechtigten Zugang zu weiterführender Schulbildung. Der bekannte Psychologe Edward Thorndike erklärte: »Frauen können und werden zweifellos als Naturwissenschaftler und Techniker tätig sein, doch der Joseph Henry, der Rowland und der Edison der Zukunft, sie alle werden Männer sein.« War diese zuversichtliche Prognose zu einer Zeit, als Frauen beispielsweise für Harvard, Cambridge oder Oxford gar keine vollwertige Zulassung bekamen, nicht vielleicht doch ein bisschen vorschnell?

Und bedenkt man, dass Frauen zu jener Zeit kein Wahlrecht hatten, war es da nicht auch etwas verfrüht, wenn Thorndike im Brustton der Überzeugung verkündete, dass Frauen, »selbst wenn sie alle wählen dürften, im Senat nur eine kleine Rolle spielen würden«? Im Rückblick sind die Beschränkungen, denen Frauen unterworfen waren, nur allzu offensichtlich. Hallo, Professor Thorndike, könnten wir doch im Stillen denken, haben Sie schon mal in Erwägung gezogen, Frauen zur Royal Society zuzulassen, oder ihnen vielleicht eine Kleinigkeit wie das Wahlrecht zuzugestehen, bevor Sie über ihre Beschränktheit auf naturwissenschaftlichem und politischem Sektor urteilen? Aber für viele Menschen jener Zeit war das Gefalle des Spielfelds überhaupt nicht wahrnehmbar. Und so kam es, dass die Feststellung des Philosophen John Stuart Mill aus dem Jahr 1869, dass kein Mensch »um das Wesen der beiden Geschlechter weiß oder wissen kann, der sie lediglich in der gerade vorherrschenden Beziehung zueinander wahrnimmt«,31 wahrhaft revolutionär war und dementsprechend belächelt und abgelehnt werden konnte. Jahrzehnte später noch wagte die angesehene Forscherin Cora Castle nur ganz ansatzweise die Frage zu stellen: »Ist angeborene Unterlegenheit der Grund für die geringe Anzahl berühmter Frauen, oder hat ihnen die Zivilisation nie die Möglichkeit gegeben, ihre angeborenen Fähigkeiten und Begabungen zu entfalten?«

Auch die Untersuchung des Gehirns zur Erklärung und Rechtfertigung der bestehenden Geschlechterverhältnisse ist ein alter Hut. Im 17. Jahrhundert erklärte der französische Philosoph Nicolas Malebranche, Frauen seien »unfähig, zu Wahrheiten vorzudringen, die nicht ohne Mühe zu erkennen sind«, denn »alles Abstrakte ist ihnen unbegreiflich«. Es gibt, so seine These, dafür eine neurologische Erklärung: die »zarte Beschaffenheit der Gehirnfasern«. Es muss wohl nur ein abstrakter Gedanke zu viel auftauchen, und - ping! - sind diese Fasern auch schon gerissen. In den folgenden Jahrhunderten, parallel zur Erweiterung und Weiterentwicklung der Erkenntnisse und Techniken in den Neurowissenschaften, wurden dann die neurologischen Erklärungen für die unterschiedlichen Rollen, Tätigkeiten und Leistungen von Männern und Frauen immer ausgefeilter. Die ersten Hirnforscher arbeiteten mit der Spitzentechnologie ihrer Zeit: Sie füllten emsig leere Schädelgehäuse mit Gerstengraupen, kategorisierten mit Hilfe von Maßbändern sorgfältig Schädelformen und weihten einen Großteil ihrer Karriere dem Wiegen von Gehirnen.34 Infamerweise erklärten sie, die intellektuelle Unterlegenheit von Frauen gehe auf ihr kleineres, leichteres Gehirn zurück -ein Phänomen, das in der viktorianischen Öffentlichkeit als »die fehlenden fünf Unzen des weiblichen Gehirns« Furore machte.

Für die allgemein akzeptierte Hypothese, dass dieser Unterschied in der Ausprägung des Gehirns von größter psychologischer Bedeutung sei, setzte sich Paul Broca ein, einer der angesehensten Wissenschaftler seiner Zeit. Erst als es einfach zu offensichtlich wurde, dass das Gewicht des Gehirns mit Intelligenz nichts zu tun hat, waren Hirnforscher bereit zuzugeben, dass das große männliche Gehirn vielleicht einfach nur den männlichen Vorsprung in Sachen Körpergröße widerspiegelt. Damit wurde die Suche nach einem Maß für ein relatives statt eines absoluten Hirngewichts angestoßen, mit dem dann klargestellt werden konnte, welches Geschlecht absolut gesehen das größere Gehirn hat. Die Wissenschaftshistorikerin Cynthia Russett stellt diese Suche folgendermaßen dar:
Man probierte es mit zahlreichen Bezugsgrößen - Gehim-gewicht zu Körpergewicht, zu Muskelmasse, zu Größe des Herzens, sogar (man merkt, allmählich macht sich Ratlosigkeit breit) zu bestimmten Teilen des Skeletts wie etwa dem Oberschenkelknochen.

Heute haben wir eine etwas genauere Vorstellung von der Komplexität des Gehirns. Zweifellos bedeutete das Vordringen vom umhüllenden Gehäuse ins Gehirninnere einen wissenschaftlichen Fortschritt. Es war natürlich ein entscheidender Augenblick, als ein vorausschauender Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, der mit der konzentrierten Zerstreutheit des Mannes, den die leise Ahnung beschleicht, seine Analyse
könnte bestimmte wichtige Details unberücksichtigt gelassen haben, das Maßband in seinen Fingern hin- und herdrehte und grübelnd sagte: »Ach, reichen Sie mir doch bitte mal das Gehirn und die Waage herüber.« Doch selbst der ungelehrte Laie des 21. Jahrhunderts kann erkennen, dass das die Wissenschaftler dem Verstehen des Geheimnisses, wie Gehirnzellen die Geistmaschine schaffen, nur unwesentlich näher brachte, und er ahnt die missliche Überstürztheit der Schlussfolgerung, dass die kognitive Unterlegenheit von Frauen in Gramm auszudrücken ist.

Man sollte meinen, dass diese Art von Vorurteil in der gegenwärtigen Debatte keinen Platz mehr hat, denn wir sind doch alle so aufgeklärt - oder womöglich gar zu aufgeklärt? Autoren, die die These vertreten, dass es die hirnphysiologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind, die das aktuelle Geschlechterverhältnis prägen, nehmen gern die Haltung von furchtlosen Streitern für die Wahrheit ein, die sich unerschrocken der dumpfideologischen political correctness entgegenstemmen. Doch die Thesen von den »grundlegenden Unterschieden« zwischen den beiden Geschlechtern reflektieren - und legitimieren darüber hinaus mit wissenschaftlicher Autorität - lediglich das, was meines Erachtens sowieso die Meinung der Mehrheit ist. Wenn wir überhaupt etwas aus der Geschichte lernen können, dann die Notwendigkeit, einen zweiten, genaueren Blick auf unsere Gesellschaft und den gegenwärtigen Stand der Naturwissenschaft zu werfen. Genau das ist das Ziel dieses Buches.

Die Grundlage des ersten Teils, »Halbwegs veränderte Welt, halbwegs verändertes Denken«, bildet die kritische Idee, dass der Geist »keine in sich abgeschlossene, im Gehirn eingepackte Einheit« ist. »Vielmehr haben wir eine Struktur psychischer Prozesse vor uns, die von der sie umgebenden Kultur geprägt und entsprechend auf diese abgestimmt sind.«

Wir pflegen über uns selbst so nicht zu denken, und man unterschätzt leicht den Einfluss dessen, was sich außerhalb des Denkens abspielt, auf das, was im Inneren passiert. Wenn wir im Brustton der Überzeugung »weibliches« mit »männlichem Denken« vergleichen, stellen wir uns etwas Stabiles im Kopf einer Person vor, das Produkt eines »weiblichen« oder »männlichen« Gehirns. Doch eine derart sauber abgetrennte Datenverarbeitungsinstanz ist etwas anderes als das Denken, das sich für Sozial- und Kultur p sychologen mit zunehmender Deutlichkeit abzeichnet. Es gibt keine »markante Linie, die das Selbst von der Kultur trennt«, so Mahza-rin Banaji, Professorin für Psychologie an der Harvard Uni-versity, und die Kultur, in der wir uns entwickeln und in der wir leben, übt »tiefgreifenden Einfluss« auf unser Denken aus.

Aus diesem Grund können wir die Geschlechtsunterschiede zwischen weiblichem und männlichem Geist - dem Geist als der Quelle unserer Gedanken, Gefühle, Fähigkeiten, Motivationen und unseres Verhaltens - nicht verstehen, wenn wir nicht auch berücksichtigen, wie durchlässig der Schädel ist, der den Geist von dem soziokulturellen Kontext trennt, in dem er tätig ist. Wenn die Umgebung das Geschlecht in irgendeiner Weise thematisiert, dann hat das Auswirkungen auf den Geist. Unser Ausgangspunkt ist, dass wir uns selbst in Gender-Begriffen vorstellen, und dadurch wird der Stellenwert von Stereotypen und sozialen Erwartungen in unserem Denken heraufgesetzt. Das kann die Selbstwahrnehmung und die aktuelle Interessenlage verändern, Fähigkeiten mindern oder stärken und ungewollte Diskriminierung auslösen. Mit anderen Worten, der soziale Kontext beeinflusst, wer Sie sind, wie Sie denken und was Sie tun. Und diese Ihre Gedanken, Gewohnheiten und Haltungen werden ihrerseits wieder zu einem Bestandteil des sozialen Kontexts. Es geht um unser Inneres.

Trennschärfe ist in diesem Bereich nicht zu erwarten. Und das Thema verlangt nach einer veränderten Art, über den Unterschied zwischen den Geschlechtern nachzudenken.
Dazu kommen die weniger subtilen, bewussten Diskriminierungsmaßnahmen gegen Frauen, die weit verbreiteten Formen von Ausschließung, die Schikanen und die diversen Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz oder im privaten Umfeld. Sie ergeben sich aus den immer noch virulenten und wirkmächtigen Vorstellungen von den Rollen der Männer und der Frauen in ihren jeweils angemessenen Lebensbereichen.

Am Ende des ersten Teils drängt sich die Frage auf, ob wir nicht sogar auf den blinden Fleck des 21. Jahrhunderts gestoßen sind. Alice Silverberg, Professorin für Mathematik an der Univer-sity of California-Irvine, meinte dazu:
Während meiner Studienzeit haben mir die Frauen aus der Generation vor mir Horrorstorys über die früher üblichen Diskriminierungen erzählt, und sie fügten r egelmäßig hinzu: »Aber heutzutage ist das ja alles anders. Dir kann das nicht mehr passieren.« Mittlerweile weiß ich, dass das auch von den Generationen davor behauptet wurde, und jetzt erzählt meine Generation der folgenden wieder dasselbe. Natürlich sagen wir dann zehn oder mehr Jahre später jeweils: »Wie konnten wir bloß glauben, dass das etwas mit Gleichheit zu tun hatte?« Tun wir der nächsten Generation einen Gefallen, wenn wir ihnen erzählen, alles sei in Ordnung und gerecht, wenn das gar nicht stimmt?

Im zweiten Teil des Buchs, »Neurosexismus«, schauen wir uns die Aussagen über männliche und weibliche Gehirne genauer an. Was ist eigentlich mit der Aussage gemeint, dass es angeborene Geschlechtsunterschiede gibt oder dass die »Verdrahtung« von männlichem und weiblichem Gehirn unterschiedlieh ist, damit Männer und Frauen ihren unterschiedlichen Rollen und Tätigkeiten besser gerecht werden können? Die Neurowissenschaftlerin Giordana Grossi bemerkt, dass diese schnellfertigen Wendungen »in Verbindung mit dem ständigen Verweis auf Geschlechtshormone den Eindruck von Stabilität und Unveränderbarkeit vermitteln sollen: Frauen und Männer verhalten sich unterschiedlich, weil ihre Gehirne unterschiedlich aufgebaut sind.«

Unter eifrigen Lesern populärwissenschaftlicher Bücher und Artikel dürfte sich mittlerweile der Eindruck ziemlich verfestigt haben, es sei wissenschaftlich erwiesen, dass der Pfad zu einem männlichen oder weiblichen Gehirn bereits in der Gebärmutter eingeschlagen wird und dass diese unterschiedlich aufgebauten Gehirne später fundamental unterschiedliches Denken und Fühlen zur Folge haben. Es gibt im Gehirn tatsächlich Unterschiede, die durch das Geschlecht bedingt sind. Es gibt außerdem (wenn auch allmählich weniger werdende) Unterschiede bezüglich dessen, was eine Person tut und welche Möglichkeiten ihr offenstehen, die durch das Geschlecht bedingt sind.

Es wäre einleuchtend, wenn diese Fakten irgendwie zusammenhingen, und vielleicht ist das ja tatsächlich der Fall. Wenn wir allerdings die Entwicklung der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Forschung nachverfolgen, stoßen wir auf eine erstaunliche Anzahl von Lücken, Unstimmigkeiten, methodischen Schlampereien und unbegründeten Vorannahmen und nicht zuletzt auf zahlreiche Anklänge an eine ungute Vergangenheit. Anne Fausto-Sterling, Professorin für Biologie und Gender-Studies an der Brown University, wies darauf hin, dass »trotz der vielen aktuellen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Hirnforschung dieses Organ nach wie vor in hohem Maße terra incognita ist, also ein perfektes Medium, auf das man - häufig unbewusst - Vermutungen über den Unterschied zwischen Mann und Frau projizieren kann«.

Allein schon die Komplexität des Gehirns bietet sich hervorragend für Überinterpretationen und übereilte Schlussfolgerungen an. Nachdem wir die Problemstellungen und Daten systematisch analysiert haben, werden wir die Frage stellen, ob die modernen neurowissenschaftlichen Erklärungen der Ungleichheit von Mann und Frau womöglich auf denselben Müllhaufen gehören wie die Erfassung des Schädelvolumens, des Hirngewichts und der Nervenfaserempfindlichkeit.

Und es ist wichtig, dass Wissenschaftler sich dieser Gefahr bewusst bleiben, denn aus den Samen wissenschaftlicher Spekulation wachsen die monströsen Fiktionen der Autoren von populärwissenschaftlichen Werken. Ständig werden von sogenannten Experten Behauptungen aufgestellt, die »lediglich altbekannte Stereotype mit dem Lack wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit überziehen«, so die Warnung von Caryl Rivers und Rosalind Barnett im Boston Globe. Und dieser »weit verbreitete Neurosexismus« findet dann schnell seinen Weg in seriöse wissenschaftliche Bücher und Artikel für die interessierte Öffentlichkeit, zu der nicht zuletzt auch Eltern und Lehrer gehören. Es ist schon jetzt so weit, dass Sexismus in neurowissenschaftlichem Gewand die Art und Weise beeinflusst, wie Kinder unterrichtet werden.

Neurosexismus reflektiert und verstärkt die Vorstellungen der Gesellschaft hinsichtlich Genderfragen, und zwar unter Umständen in besonders wirkmächtiger Form. Dubiose, »von der Gehirnwissenschaft gestützte Fakten« über die Unterschiede zwischen den Geschlechtern werden zu einem Bestandteil des kollektiven Wissens. Und wie ich im dritten Teil des Buches, »Gender-Recycling«, aufzeigen werde, deutet alles daraufhin, dass sich das Rad der Geschlechtervorurteile auch in der nächsten Generation weiterdrehen wird. Kinder fiebern darauf, ihren eigenen Ort in der auffälligsten und omnipräsen-ten Zuordnungsstruktur der Gesellschaft zu verstehen und zu finden, und sie kommen als Kinder von Eltern mit halb verändertem Denken auf eine halb veränderte Welt.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass zu meinen Lebzeiten eine Frau Premierminister sein wird.
Margaret Thatcher (1971), britische Premierministerin von 1979 bis I99O.

Es ist wichtig, sich ab und zu daran zu erinnern, wie gravierend sich eine Gesellschaft in relativer kurzer Zeit verändern kann. Präzedenzfälle dafür finden sich immer wieder. Kann es eine Gesellschaft, in der Männer und Frauen wirklich gleichbehandelt werden, denn überhaupt geben? Ironischerweise ist womöglich der unerbittlich-unüberwindliche Gegendruck, der das verhindert, gar nicht die Biologie, sondern unser durch die Kultur geprägtes Denken. Niemand kann heute sagen, ob Männer und Frauen jemals in den Genuss echter Gleichheit kommen werden. Aber Eines weiß ich sicher: Wenn den Gegenpositionen, die ich in diesem Buch präsentieren werde, Gehör geschenkt wird, dann werden die Leute in 50 Jahren auf die zu Beginn dieses 21. Jahrhunderts geführten Debatten befremdet und amüsiert zurückschauen und sich fragen, wie wir je hatten annehmen können, dass dieser Zustand das Nonplusultra an Gleichheit darstellte.

Monday, December 12, 2011

Geschlecht: Wider die Natürlichkeit...

Jahrhunderte lang wandten sich engagierte Frauen – und einige Männer – gegen die Annahme, dass Unwissenheit von Frauen und ihr Ausschluss aus Machtpositionen auf «natürliche» – vorgegebene und unabänderliche – geschlechtliche Unterschiede zurückzuführen sei. Sie kennzeichneten geschlechtliche Unterschiede als Produkt gesellschaftlicher Ungleichbehandlungen. Noch Simone de Beauvoir betonte: «Kein biologisches […] Schicksal bestimmt die Gestalt, die das weibliche Menschenwesen im Schoß der Gesellschaft annimmt.»
Hinter diese Forderungen wichen viele Feminismen der letzten Jahrzehnte zurück. Mit der Aufspaltung in biologisches Geschlecht (engl. «sex») und gesellschaftliches Geschlecht (engl. «gender») setzten sie biologische Geschlechterdifferenzen als gegeben voraus. Aus der unterschiedlichen Biologie von «Frau» und «Mann» dürften aber keine gesellschaftlichen Ungleichbehandlungen abgeleitet werden. Das Ziel der Gleichstellung wurde so nicht erreicht.
Ein Strategiewechsel ist nötig! Die Vorlage hierfür lieferte Judith Butler. Sie bezweifelte wieder «Natürlichkeit» und stellte klar, dass auch Körperlichkeit erst durch eine «Brille» gelesen wird, die durch individuelle Erfahrungen und Lernen in Gesellschaft bestimmt ist. Organe werden erst durch die Interpretation als «geschlechtlich» und durch ihre unentwegte Betonung und Wiederholung in dieser Rolle hergestellt und bestätigt.

Hier lohnt es sich weiterzuarbeiten. Mit Butlers Ansatz erscheinen «Penis», «Hodensack», «Hoden» etc. noch als gesellschaftlich formulierte Bezeichnungen für tatsächlich vorhandene Organe. Als ob, wenn man «natürliche Vorgegebenheiten» liest, sich die Notwendigkeit der Bezeichnung dieser Organe und ihre weitgehend binäre Einordnung zwingend ergibt.

Hier widerspricht Heinz-Jürgen Voß. Er bereitet aktuelle Ergebnisse der Biologie anschaulich auf und zeigt wie selbst sie in Richtung vieler Geschlechter weisen. Indem er an Gedanken der Entwicklung anknüpft, rückt er den Menschen selbst in den Mittelpunkt, wo bisher die Kategorie und Institution «Geschlecht» fetischisiert wurden. Von hier aus ergeben sich gesellschaftskritische Forderungen im Anschluss an Karl Marx.

Auszug:

 Abb. 8: Dargestellt sind einige Wechselwirkungen von Genen und ihren Produkten bei der Geschlechtsentwicklung. Die Beschreibungen beziehen sich auf die Maus und die Zeitpunkte ihrer Embryonalentwicklung (E) in Tagen nach der Befruchtung (9,5 bis 12,5). Pfeile zeigen aktivierende, die übrigen Verbindungslinien hemmende Wirkungen an. Durchgezogene Linien stehen für als relativ sicher geltende Wechselwirkungen, gestrichelte Linien für indirekt erfolgende bzw. angenommene. (entnommen aus: Klattig 2006: 5),
 

Die obige Abbildung (Abb. 8) zeigt ein (!) Modell der derzeit angenommenen Interaktionen von Genen (und ihren Produkten) bei der Maus - nicht etwa, weil hier davon ausgegangen werden soll, dass die Ergebnisse einfach auf den Menschen übertragbar wären; dass das nicht der Fall ist, zeigte sich in den bisherigen Ausführungen wiederholt -, sondern weil sich eine ähnlich komplexe Darstellung für den Menschen in der derzeitigen Fachliteratur nicht findet.
Niemand sollte sich durch die vielen Abkürzungen verunsichern lassen - sie und die detaillierten Abläufe erschließen sich bei näherer Beschäftigung damit leicht. Es genügt zu wissen, dass die Abkürzungen jeweils für Gene bzw. ihre Produkte stehen. Was besonders anschaulich wird, ist, wie viele Faktoren bereits hier als an der Geschlechtsentwicklung beteiligt postuliert werden -einige sind aus den bereits erfolgten Beschreibungen bekannt.

Auch werden ihre Wechselwirkungen anschaulicher. Durch Gen-Expressionsanalysen wird es derzeit für etwa 1000 Gene als möglich angesehen, dass sie an der Geschlechtsentwicklung Anteil haben könnten; beim Vergleich solcher Analysen zeigt sich, dass sie bei den vorgeschlagenen Genen variieren. Hingewiesen sei auf die Unterscheidung der durchgezogenen und der gestrichelten Linien in der Abbildung: Während die durchgezogenen Linien auf Wechselwirkungen zwischen Genen bzw. ihren Produkten verweisen, die als recht sicher gelten und für die es klare Anhaltspunkte gibt, stehen die gestrichelten Linien für Wechselwirkungen, die nicht sicher gezeigt wurden, die indirekt erfolgen könnten - wo also weitere Faktoren zwischen den dargestellten zu verorten wären - oder die lediglich angenommen werden. Auffallend ist die Vielzahl der gestrichelten Linien, während sich die Anzahl der durchgezogenen Linien in Grenzen hält.

Damit wird in jedem Fall klar: Das Bild, das in populären Zeitschriften wie «Focus», «Spiegel», «Stern», «Zeit», «FAZ» und in weiteren Medien vereinfacht gezeichnet wurde und wird, wonach Biologie und Medizin über die genauen Abläufe der Geschlechtsentwicklung «Bescheid wüssten», ist schlicht falsch. Die derzeitigen biologisch-medizinischen Theorien zur Geschlechtsentwicklung stellen sich als lückenhaft dar - den Fachwissenschaftlerjnnen ist das klar (vgl. beispielsweise Hiort 2007: 103), sie sind allerdings oftmals der Meinung, der besseren Verständlichkeit wegen vereinfachen zu müssen. Sie vereinfachen dann aber in einer Weise, dass selbst die notwendigen wesentlichen Neuerungen seit etwa Anfang der 1990er Jahre -nämlich die sich abzeichnende Komplexität der Abläufe und die Vielzahl der miteinander vernetzten Faktoren - in popularisierenden Schriften nicht thematisiert werden. Damit hat die biologisch-medizinische Wissenschaft selbst auch einen Anteil daran, dass sich das «populäre Wissen» über genetische Abläufe nicht aktualisiert, sondern sich ideologisch heute noch in vielerlei Hinsicht auf dem Stand vom Anfang des 20. Jahrhunderts befindet: Damals wurde streckenweise die weitreichende Vererbbarkeit zahlreicher Merkmale propagiert, und es etablierte sich ein biologischer Rassismus und Antisemitismus.

Was die Beschreibung der genetischen Abläufe betrifft, so spiegelt das derzeitige populäre Wissen etwa den Stand der 1950er/60er Jahre wider, mit simpelsten Modellen der Genwirkung. Letztlich holt man sich über solche unzulässig vereinfachenden Darstellungen die veralteten Auffassungen immer wieder in die biologische und medizinische Wissenschaft selbst zurück, da auch die späteren Nachwuchswissenschaftler_innen mit solch simplen Modellen sozialisiert werden.

Read more: Wie kommt das Geschlecht ins Gehirn?
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