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Monday, December 12, 2011

Geschlecht: Wider die Natürlichkeit...

Jahrhunderte lang wandten sich engagierte Frauen – und einige Männer – gegen die Annahme, dass Unwissenheit von Frauen und ihr Ausschluss aus Machtpositionen auf «natürliche» – vorgegebene und unabänderliche – geschlechtliche Unterschiede zurückzuführen sei. Sie kennzeichneten geschlechtliche Unterschiede als Produkt gesellschaftlicher Ungleichbehandlungen. Noch Simone de Beauvoir betonte: «Kein biologisches […] Schicksal bestimmt die Gestalt, die das weibliche Menschenwesen im Schoß der Gesellschaft annimmt.»
Hinter diese Forderungen wichen viele Feminismen der letzten Jahrzehnte zurück. Mit der Aufspaltung in biologisches Geschlecht (engl. «sex») und gesellschaftliches Geschlecht (engl. «gender») setzten sie biologische Geschlechterdifferenzen als gegeben voraus. Aus der unterschiedlichen Biologie von «Frau» und «Mann» dürften aber keine gesellschaftlichen Ungleichbehandlungen abgeleitet werden. Das Ziel der Gleichstellung wurde so nicht erreicht.
Ein Strategiewechsel ist nötig! Die Vorlage hierfür lieferte Judith Butler. Sie bezweifelte wieder «Natürlichkeit» und stellte klar, dass auch Körperlichkeit erst durch eine «Brille» gelesen wird, die durch individuelle Erfahrungen und Lernen in Gesellschaft bestimmt ist. Organe werden erst durch die Interpretation als «geschlechtlich» und durch ihre unentwegte Betonung und Wiederholung in dieser Rolle hergestellt und bestätigt.

Hier lohnt es sich weiterzuarbeiten. Mit Butlers Ansatz erscheinen «Penis», «Hodensack», «Hoden» etc. noch als gesellschaftlich formulierte Bezeichnungen für tatsächlich vorhandene Organe. Als ob, wenn man «natürliche Vorgegebenheiten» liest, sich die Notwendigkeit der Bezeichnung dieser Organe und ihre weitgehend binäre Einordnung zwingend ergibt.

Hier widerspricht Heinz-Jürgen Voß. Er bereitet aktuelle Ergebnisse der Biologie anschaulich auf und zeigt wie selbst sie in Richtung vieler Geschlechter weisen. Indem er an Gedanken der Entwicklung anknüpft, rückt er den Menschen selbst in den Mittelpunkt, wo bisher die Kategorie und Institution «Geschlecht» fetischisiert wurden. Von hier aus ergeben sich gesellschaftskritische Forderungen im Anschluss an Karl Marx.

Auszug:

 Abb. 8: Dargestellt sind einige Wechselwirkungen von Genen und ihren Produkten bei der Geschlechtsentwicklung. Die Beschreibungen beziehen sich auf die Maus und die Zeitpunkte ihrer Embryonalentwicklung (E) in Tagen nach der Befruchtung (9,5 bis 12,5). Pfeile zeigen aktivierende, die übrigen Verbindungslinien hemmende Wirkungen an. Durchgezogene Linien stehen für als relativ sicher geltende Wechselwirkungen, gestrichelte Linien für indirekt erfolgende bzw. angenommene. (entnommen aus: Klattig 2006: 5),
 

Die obige Abbildung (Abb. 8) zeigt ein (!) Modell der derzeit angenommenen Interaktionen von Genen (und ihren Produkten) bei der Maus - nicht etwa, weil hier davon ausgegangen werden soll, dass die Ergebnisse einfach auf den Menschen übertragbar wären; dass das nicht der Fall ist, zeigte sich in den bisherigen Ausführungen wiederholt -, sondern weil sich eine ähnlich komplexe Darstellung für den Menschen in der derzeitigen Fachliteratur nicht findet.
Niemand sollte sich durch die vielen Abkürzungen verunsichern lassen - sie und die detaillierten Abläufe erschließen sich bei näherer Beschäftigung damit leicht. Es genügt zu wissen, dass die Abkürzungen jeweils für Gene bzw. ihre Produkte stehen. Was besonders anschaulich wird, ist, wie viele Faktoren bereits hier als an der Geschlechtsentwicklung beteiligt postuliert werden -einige sind aus den bereits erfolgten Beschreibungen bekannt.

Auch werden ihre Wechselwirkungen anschaulicher. Durch Gen-Expressionsanalysen wird es derzeit für etwa 1000 Gene als möglich angesehen, dass sie an der Geschlechtsentwicklung Anteil haben könnten; beim Vergleich solcher Analysen zeigt sich, dass sie bei den vorgeschlagenen Genen variieren. Hingewiesen sei auf die Unterscheidung der durchgezogenen und der gestrichelten Linien in der Abbildung: Während die durchgezogenen Linien auf Wechselwirkungen zwischen Genen bzw. ihren Produkten verweisen, die als recht sicher gelten und für die es klare Anhaltspunkte gibt, stehen die gestrichelten Linien für Wechselwirkungen, die nicht sicher gezeigt wurden, die indirekt erfolgen könnten - wo also weitere Faktoren zwischen den dargestellten zu verorten wären - oder die lediglich angenommen werden. Auffallend ist die Vielzahl der gestrichelten Linien, während sich die Anzahl der durchgezogenen Linien in Grenzen hält.

Damit wird in jedem Fall klar: Das Bild, das in populären Zeitschriften wie «Focus», «Spiegel», «Stern», «Zeit», «FAZ» und in weiteren Medien vereinfacht gezeichnet wurde und wird, wonach Biologie und Medizin über die genauen Abläufe der Geschlechtsentwicklung «Bescheid wüssten», ist schlicht falsch. Die derzeitigen biologisch-medizinischen Theorien zur Geschlechtsentwicklung stellen sich als lückenhaft dar - den Fachwissenschaftlerjnnen ist das klar (vgl. beispielsweise Hiort 2007: 103), sie sind allerdings oftmals der Meinung, der besseren Verständlichkeit wegen vereinfachen zu müssen. Sie vereinfachen dann aber in einer Weise, dass selbst die notwendigen wesentlichen Neuerungen seit etwa Anfang der 1990er Jahre -nämlich die sich abzeichnende Komplexität der Abläufe und die Vielzahl der miteinander vernetzten Faktoren - in popularisierenden Schriften nicht thematisiert werden. Damit hat die biologisch-medizinische Wissenschaft selbst auch einen Anteil daran, dass sich das «populäre Wissen» über genetische Abläufe nicht aktualisiert, sondern sich ideologisch heute noch in vielerlei Hinsicht auf dem Stand vom Anfang des 20. Jahrhunderts befindet: Damals wurde streckenweise die weitreichende Vererbbarkeit zahlreicher Merkmale propagiert, und es etablierte sich ein biologischer Rassismus und Antisemitismus.

Was die Beschreibung der genetischen Abläufe betrifft, so spiegelt das derzeitige populäre Wissen etwa den Stand der 1950er/60er Jahre wider, mit simpelsten Modellen der Genwirkung. Letztlich holt man sich über solche unzulässig vereinfachenden Darstellungen die veralteten Auffassungen immer wieder in die biologische und medizinische Wissenschaft selbst zurück, da auch die späteren Nachwuchswissenschaftler_innen mit solch simplen Modellen sozialisiert werden.

Read more: Wie kommt das Geschlecht ins Gehirn?
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