Autorin: Cordelia Fine -
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Viele bekannte populärwissenschaftliche Bestseller behaupten Männer und Frauen haben unterschiedliche Gehirne und daher unterschiedliche Begabungen. Cordelia Fine entlarvt, wie unter dem Deckmantel der Wissenschaft fehlerhafte Untersuchungen, oberflächlich gedeutete Forschung und vage Beweise zu angeblichen Tatsachen gemacht wurden. Sie zeigt, wie unser Leben als Mann und Frau stark von der subtilen Macht der Stereotypen beeinflusst wird, selbst wenn wir sie nicht gut heißen. Doch unser Gehirn entwickelt sich vor allem durch psychologische Einflüsse, Erfahrungen und Tätigkeiten. Und für Männer und Frauen gilt: Alles ist möglich!
Vorwort
Ich darf Ihnen Evan vorstellen.
Wenn Jane, seine Frau, verstimmt ist, setzt er sich neben sie auf die Couch und liest eine Zeitung oder ein Buch, »um sich von seinen eigenen unguten Gefühlen abzulenken«, wobei er zerstreut einen Arm um Janes Schultern legt. Nachdem er einige Jahre an diesem Problem gearbeitet hat, sieht er sich allmählich zunehmend in der Lage, ihr auf etwas herkömmlichere Art seine Anteilnahme zu vermitteln. Die politisch Korrekten und/oder wissenschaftlich Uninformierten unter meinen Lesern fragen sich jetzt wahrscheinlich, warum Evan sich so sonderbar verhält. Liegt es daran, dass er Jane nicht wirklich liebt? Erholt er sich nur langsam von einem Zwischenfall, der ihn zutiefst traumatisiert hat? Wurde er bis zum Alter von 13 Jahren von Wölfen aufgezogen?
Alles falsch, Evan ist einfach nur ein ganz normaler Mann mit einem ganz normalen Männergehirn,
das in Sachen Empathie eben komplett ungünstig verdrahtet ist. Dass ein simpler Tröstungsakt in Evans Verhaltensrepertoire nicht vorkommt, liegt an den Neuronen, mit denen die Natur ihn ausgestattet hat: Neuro-nen, die eine verheerende »Testosteronmarinierung« über sich ergehen lassen mussten; Neuronen, denen die »angeborene Fähigkeit, aus einem Gesichtsausdruck oder einem Tonfall emotionale Nuancen herauslesen zu können«, abgeht, wie sie die Neuronen von Frauen beherrschen; kurz: männlichen Neuronen.
Evan ist eine von mehreren ulkigen Figuren, die Louann Brizendines Bestseller Das weibliche Gehirn bevölkern. In ihrer Darstellung ähnelt die Einfühlungskompetenz von Männern einem ungeschickten Touristen, der außerstande ist, an seinem Ferienort eine Speisekarte zu entziffern, und sie steht in schroffem Gegensatz zu der coolen Professionalität, die Frauen auf diesem Gebiet mitbringen. Nehmen Sie als Beispiel nur etwa Sarah. Sie kann »erkennen, was [ihr Mann] empfindet, und zwar häufig schon bevor es ihm selbst bewusst ist«. Wie eine Hellseherin, die weiß, dass Sie die Karo-Sieben ziehen werden, noch bevor Sie sie auch nur einen Millimeter aus dem Stapel herausbewegt haben, kann Sarah ihren Mann mit ihrer speziellen Fertigkeit verblüffen, noch bevor er sich selbst darüber im Klaren ist, zu wissen, was er fühlt. (Und TUSCH! Das ist doch genau dein Gefühl!) Dabei ist Sarah keine Hellseherin vom Rummelplatz. Sie ist einfach nur eine Frau und als solche offenbar mit der außerordentlichen Gabe ausgestattet, Gedanken zu lesen - eine Gabe, die allen Inhabern eines weiblichen Gehirns eignet:
Mit seinen Manövern, die einem Kampfflugzeug alle Ehre machen würden, ist Sarahs weibliches Gehirn eine Hochleis-tungs-Gefühlsmaschine. Es ist dafür konstruiert, in jedem Augenblick die nicht sprachlichen Signale für die tiefsten Gefühle anderer zu verfolgen.
Und was befähigt das weibliche Gehirn auf so bemerkenswerte Weise, sich auf die Fährte der Gefühle anderer Leute zu setzen, als handele es sich um in die Enge zu treibende Beutetiere? Warum, so fragen Sie sich bestimmt, haben männliche Neuronen derartige magische Fähigkeiten nicht, warum sind sie stattdessen eher in den Männerdomänen Naturwissenschaft und Mathematik zu Hause? Die Antwort variiert je nach aktueller Erkenntnislage - es kann an der Testosteronmenge im Mutterleib liegen, die die neuronalen Schaltkreise des männlichen Fötus verwüstet; am überdimensionalen weibliehen Gehirnbalken; an der effizient spezialisierten Organisation des männlichen Gehirns; am primitiven subkortikalen Emotionsschaltkreis von Jungen oder an der im weiblichen Gehirn nur spärlich ausgebildeten weißen Substanz mit der Funktion räumlich-visuellen Erkennens - die zugrunde liegende Botschaft ist immer dieselbe: Es gibt gravierende, nachweisbare Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen.
Nehmen wir an, Sie haben Eheprobleme. Dann greifen Sie doch zu dem Werk What Could He Be Thinking? (Was denkt er wohl?), verfasst von dem »Pädagogen, Therapeuten, Unternehmensberater und... Bestsellerautor« Michael Gurian, und auch Sie werden der Erleuchtung teilhaftig, die der Autor mit seiner Frau Gail erlebte, als er MRT- und PET-Scans des männlichen und weiblichen Gehirns studierte:
Ich sagte: »Wir dachten, wir wüssten eine ganze Menge über unseren Partner, aber wahrscheinlich war das einfach nicht genug.« Und Gail meinte: »Es'gibt wirklich so etwas wie ein >männliches< Gehirn. Mit einer MRT können Sie schlecht diskutieren.« Wir stellten fest, dass unsere Kommunikation, die Art, wie wir uns gegenseitig beistanden und unsere Auffassung von unserer Beziehung gerade einmal anfing zu funktionieren, und das nach sechs Jahren Ehe.
Die Informationen aus diesen Scans haben nach Aussage Gu-rians seine »Ehe gerettet«.
Und Ehegatten sind beileibe nicht die Einzigen, die man nach Aussage Gurians mit den Segnungen der Erkenntnisse aus der Hirnwissenschaft besser verstehen kann. Der Klappentext des einflussreichen Buches Why Gender Matters (Warum die Geschlechtszugehörigkeit eine Rolle spielt) des Arztes Leonard Sax (er ist der Gründer und Geschäftsführer der National Association for Single Sex Public Education [NASSPE]) verspricht, die Leser seines Buchs »auf Veranlagung beruhende Unterschiede [zwischen den Geschlechtern] erkennen und verstehen« zu lehren. Mit der Lektüre seines Buchs werden die Leser »jedem Mädchen und jedem Jungen dazu verhelfen können, ihr volles Potential umzusetzen«. Ganz ähnlich formuliert es eine neuere Veröffentlichung des Gurian-Instituts: Eltern und Lehrer erfahren, dass »Forscher [unter Einbeziehung von MRT] buchstäblich sehen können, was wir schon wissen: Es gibt fundamentale Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die sich bereits in der Struktur des menschlichen Gehirns niederschlagen.« Für Gurian folgt daraus: »Wer mit einer Klasse oder einer Familie zu tun hat und nicht weiß, wie das Gehirn arbeitet und wie unterschiedlich männliche und weibliche Gehirne lernen, der bleibt hinter dem, was wir als Lehrer, Eltern und Bezugspersonen von Kindern leisten sollten, weit zurück.«
Von einem vertieften Wissen um die Geschlechtsunterschiede im Gehirn können angeblich sogar Firmenbosse profitieren. Das kürzlich erschienene Buch Leadership and the Sexes »verbindet den aktuellen Wissensstand um die Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Gehirn mit jedem einzelnen Business-Bereich« und »bietet Handreichungen aus der Neurowissenschaft an, mit denen der Leser Einblick in das Gehirn von Männern und Frauen gewinnen und so sich selbst und andere besser verstehen kann«.
Der Text auf dem Umschlag verkündet, dass das im Buch enthaltene »Gender-Wissen« »erfolgreich bei so unterschiedlichen Firmen wie IBM, Nissan, Proctor [sie] Gamble, Deloitte 8tTouche, Price WaterhouseCoopers, Brooks Sports, und vielen anderen eingesetzt« wurde.
Nun werden Sie sich womöglich fragen, ob man überhaupt realistischerweise bei zwei Sorten von Menschen mit derart unterschiedlichen Gehirnen mit ähnlichen Werten, Fähigkeiten, Leistungen, Lebensstilen rechnen darf. Wenn es unsere unterschiedlich strukturierten Gehirne sind, die den Unterschied zwischen den Geschlechtern ausmachen, dann können wir uns vielleicht einfach ganz entspannt zurücklehnen. Falls Sie eine Lösung für die anhaltende Ungleichbehandlung der Geschlechter suchen, dann hören Sie auf, argwöhnisch auf die Gesellschaft zu stieren - werfen Sie statt-dessen doch bitte einen Blick auf diese Computertomographie.
Wenn es doch nur so einfach wäre.
Vor ungefähr 200 Jahren verfasste der englische Geistliche Thomas Gisborne ein Buch, das trotz seines - nach meinem Geschmack - reichlich unattraktiven Titels An Enquiry into the Duties of the Female Sex (Eine Untersuchung zu den Pflichten des weiblichen Geschlechts) ein Bestseller seines Jahrhunderts wurde. Gisborne legte darin säuberlich die unterschiedlichen geistig-seelischen Fähigkeiten dar, die nötig sind, um der Rolle eines Mannes bzw. einer Frau gerecht zu werden:
Die Wissenschaft der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und der Wirtschaftspolitik; die Ausübung der Regierungsgewalt mitsamt all ihren exekutiven Funktionen; die schwer verständliche Forschungstätigkeit der Gelehrten,... das Wissen, das auf dem weiten Feld des Handels unverzichtbar ist. ..all diese und andere Studien, Betätigungen und Berufe, die hauptsächlich oder vollständig Männern zugeschrieben werden, setzen die Anstrengungen eines Geistes voraus, der mit der Fähigkeit genauen, umfassenden Denkens begabt ist so wie der Bereitschaft, energisch und unablässig Gebrauch davon zu machen.
Und der Autor argumentiert weiter, dass es nur natürlich war, dass diese Qualitäten »dem weiblichen Geist mit eher sparsamer Hand zugeteilt« wurden, denn schließlich sind Frauen bei der Erfüllung ihrer Pflichten weniger auf derartige Talente angewiesen. Verstehen Sie das nicht falsch: Frauen sind nicht minderwertig, sie sind einfach anders. Denn wenn es um das geht, was Frauen in ihrem eigenen Bereich leisten, dann ist »die Überlegenheit des weiblichen Geistes unübertrefflich«, verfügt die Frau doch über »die Macht, die Stirn des Gelehrten zu glätten, die erschöpften Kräfte des Weisen zu erfrischen und im gesamten Familienkreis das belebende und reizende Lächeln des Frohsinns erstrahlen zu lassen«. Man darf es als äußerst glückliche Fügung bezeichnen, dass diese weiblichen Talente so punktgenau mit den Pflichten des weiblichen Geschlechts übereinstimmen.
Machen wir nun einen Zeitsprung von 200 Jahren und wenden uns den einleitenden Sätzen von The Essential Dif-ference (Der entscheidende Unterschied) zu, einem sehr einflussreichen Buch vom Beginn des 21. Jahrhunderts über die Psychologie von Männern und Frauen - und was wir dort in den Worten des Universitätspsychologen Simon Baron-Cohen formuliert finden, ist im Prinzip dasselbe wie bei Gisborne:
Das weibliche Gehirn ist vor allem aufEmpathie angelegt. Das männliche Gehirn ist vor allem auf das Verständnis und die Errichtung von Systemen angelegt.
Genau wie Gisborne ist Baron-Cohen überzeugt, dass Menschen mit dem »männlichen Gehirn« die besseren Naturwissenschaftler, Ingenieure, Banker und Anwälte sind, weil sie über die Fähigkeit verfügen, sich auf unterschiedliche Aspekte eines Systems zu konzentrieren (sei es eines biologischen, physikalischen, finanztechnischen oder rechtlichen Systems) und zudem noch den Antrieb haben, verstehen zu wollen, wie es funktioniert. Und daneben findet sich auch die beruhigende Versicherung wieder, dass Frauen ebenfalls ihre spezifischen Talente haben. In einer Geste, die als »Meisterstück in punkto Herablassung« beschrieben wurde, erklärt Baron-Cohen, der Hang des weiblichen Gehirns, Gedanken und Gefühle anderer zu verstehen und einfühlsam auf sie zu reagieren, disponiere dieses Gehirn in idealer Weise für die beruflichen Tätigkeiten, in denen sich die traditionelle Fürsorgehaltung der Frau entfalten kann: »Menschen mit einem weiblichen Gehirn geben die besten Berater, Grundschullehrer, Krankenschwestern, Betreuer, Therapeuten, Sozialarbeiter, Mediatoren, Moderatoren oder Gruppenleiter ab.«
Der Philosoph Neu Levy fasst Baron-Cohens These prägnant zusammen:
Im Allgemeinen findet die weibliche Intelligenz dort ihr ideales Betätigungsfeld, wo es darum geht, ein behagliches Umfeld zu schaffen, während die Männer sich stärker für das Verstehen der Welt und den Bau und die Reparatur der Dinge einsetzen, die wir für unsere Existenz in dieser Welt brauchen,
und wem fiele bei diesen Worten nicht Gisbornes Frauchen aus dem 18. Jahrhundert ein, das eifrig die Stirn seines gelehrten Gatten glättet?
Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass Baron-Cohen mit allem Nachdruck darauf hinweist, dass nicht sämtliche Frauen ein weibliches, einfühlsames Gehirn haben, so wenig wie alle Männer ein männlichsystematisierendes. Allerdings unterscheidet ihn dieses Zugeständnis nun auch wieder nicht
so sehr von traditionellen Beschreibungen der Unterschiede zwischen den Geschlechtern, wie er es wohl gern hätte. Bereits im Jahr 1705 beobachtete die Philosophin Mary Asteil, dass den Frauen, die in männlichen Domänen Großes vollbracht haben, von Männern bescheinigt wurde, ihr Verhalten sei »untypisch für ihr Geschlecht. Damit soll den Lesern wohl signalisiert werden, dass es nicht Frauen waren, die diese großen Leistungen erbrachten, sondern Männer in Reifröcken! «Und zwei Jahrhunderte später wurde scharfsinnigen Frauen bescheinigt, dass sie »»männlichen Geist( besäßen«. Ein Autor äußerte sich im Quarterly Journal of Science folgendermaßen:
Die Naturwissenschaftlerin ist ebenso wie die Athletin eine Anomalität, eine Ausnahmeerscheinung, die eine Stellung zwischen den beiden Geschlechtem einnimmt Im einen Fall hat sich das Gehirn, im anderen die Muskulatur abnormal entwickelt.
Baron-Cohen würde natürlich eine Frau, die einen starken Hang zur Systematisierung hat, nicht als »abnormal« bezeichnen. Aber es schwingt doch ein deutlicher Unterton von De-platziertheit mit, wenn von einem männlichen Gehirn im Körper einer Frau oder einem weiblichen Gehirn im Schädel eines Mannes gesprochen wird.
Allein schon das solide Beharrungsvermögen der Idee, dass männliche und weibliche Psychologie grundsätzlich verschieden sind, nötigt einem Respekt ab. Gibt es denn nicht wirklich psychologische Unterschiede, die in den jeweils geschlechtsspezifischen Gehirnen fest verdrahtet sind und die erklären, warum selbst in den egalitärsten Gesellschaften des 21. Jahrhunderts das Leben von Frauen und Männern immer noch bemerkenswert unterschiedlich verläuft?
Für viele Menschen bringt die Erfahrung, Eltern zu werden, die vorgefasste Meinung zum Verschwinden, dass Jungen und Mädchen, wenn sie auf die Welt kommen, mehr oder weniger gleich sind. Der Gender-Forscher Michael Kimmel erzählt von einem alten Freund, der, als Michael Vater wurde, sarkastisch bemerkte: »Jetzt wirst du selbst feststellen, dass alles rein biologisch ist!« Und was könnte dafür ein zwingenderer Beweis sein, als wenn man als Eltern am eigenen Nachwuchs erfährt, wie die Sprösslinge die gutgemeinten Versuche einer geschlechtsneutralen Erziehung über den Haufen werfen? Die Soziologin Emily Kane hat festgestellt, dass diese Erfahrung weit verbreitet ist. Viele Eltern von Kleinkindern - besonders die Angehörigen einer weißen mittleren und oberen Mittelschicht - kamen durch ein schlichtes Ausschlussverfahren zu dem Ergebnis, dass die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen biologisch bedingt sind. Sie waren überzeugt, sich gegenüber ihren Kindern geschlechtsneutral verhalten zu haben; es blieb also die »Alternative Biologie«, wie Kane es bezeichnet, als einzige Erklärungsmöglichkeit übrig.
Und genauso geht es Beobachtern, die die Gesellschaft insgesamt in den Blick nehmen: Sie fallen in ganz ähnlicher Weise auf die Biologie als Erklärungsmodell zurück. In ihrem letzten Buch Das Geschlechter-Paradox setzt sich die Journalistin und Psychologin Susan Pinker mit der Frage auseinander, warum »hochbegabte, qualifizierte Frauen mit den besten Chancen und Wahlmöglichkeiten offenbar nicht in gleicher Zahl die gleichen Wege einschlagen] wie die Männer in ihrem Umfeld. Auch nachdem die Barrieren gefallen sind, verhalten sie sich nicht wie Klone der Männer.« Pinker fragt sich angesichts dieses für einige überraschenden Befunds, »ob Biologie nicht vielleicht doch - wenn auch nicht gerade Schicksal, so doch einen gravierenden, bedeutenden Ausgangspunkt für die Diskussion über Geschlechtsunterschiede darstellt«.
Die Kluft zwischen den Geschlechtern muss nach ihrer Meinung teilweise »neurologische oder hormonelle Wurzeln« haben. Nun, da die Schranken einer sexistischen Umwelt zunehmend verschwinden, gibt es immer weniger Sündenböcke in der Gesellschaft, die man für die nach wie vor bestehenden Ungleichheiten und die Ungerechtigkeiten auf dem Arbeitsmarkt verantwortlich machen könnte. Und da wir nicht länger äußeren Einflüssen die Schuld zuschieben können, richten sich aller Augen auf das Innere - auf die Unterschiede in der Struktur oder der Funktionsweise von weiblichen und männlichen Gehirnen. Mit ihrem anders strukturierten Gehirn entscheiden sich viele Frauen gegen das, was Pinker die »abstrakte Grundform« des männlichen Lebensmodells nennt - bei dem die Karriere wichtiger ist als die Familie -, und entwickeln andere Interessen.
Die per Ausschlussverfahren erreichte Erkenntnis, dass es hirnphysiologisch bedingte psychische Unterschiede zwischen den Geschlechtern geben muss, genießt offensichtlich auch eindrucksvolle Unterstützung von Seiten der Naturwissenschaften. Da wäre zunächst der Anstieg des Testosterons im Mutterleib, der während der Schwangerschaft bei männlichen, aber nicht bei weiblichen Babys stattfindet.
Anne Moir und David Jessel, die Autoren von Brain Sex - Der wahre Unterschied zwischen Mann und Frau, beschreiben diesen kritischen Augenblick folgendermaßen:
... in der sechsten oder siebten Woche nach der Empfängnis »entscheidet« sich der ungeborene Säugling, ob er männlich oder weiblich »werden will«, und das Gehirn beginnt, ein männliches oder weibliches Muster anzunehmen. Das, was in diesem hitischen Stadium im Dunkel des Mutterleibs geschieht, legt die Struktur und den Aufbau des Gehirns fest, und dieser Vorgang wiederum bestimmt die Art und das Wesen des Denkens.
Wie andere Verfasser populärwissenschaftlicher Bücher setzen uns auch Moir und Jessel nicht der Gefahr aus, die psychologische Tragweite dessen zu unterschätzen, was da »im Dunkel des Mutterleibs« passiert. Louann Brizendine gibt sich damit zufrieden, einfach festzustellen, dass der Effekt des prä-natalen Testosterons auf das Gehirn »unser biologisches Schicksal definiert«, wohingegen Moir und Jessel sich unverhohlen schadenfroh über die Sachlage auslassen. »Säuglinge haben bereits bei ihrer Geburt ihren eigenen männlichen oder weiblichen Kopf. Sie haben bereits im Mutterleib ihre Entscheidung getroffen, in sicherer Obhut vor den Legionen von Sozialingenieuren, die sie schon ungeduldig erwarten.
Hinzu kommen die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen. Die raschen Fortschritte bei den bildgebenden Verfahren ermöglichen es Neurologen, immer detaillierter die Geschlechtsunterschiede im Aufbau und der Funktionsweise des Gehirns auszumachen. Wenn unsere Gehirne sich unterscheiden, muss das dann nicht auch zwangsläufig auf das Denken zutreffen? Beispielsweise äußerte im Rahmen einer Dokumentation in der New York Times zum Thema der sogenannten Aussteigerinnen-Revolution (d. h. zu Frauen, die ihre Karriere abbrechen, um sich ausschließlich der Erziehung ihrer Kinder zu widmen) eine Interviewte gegenüber der Journalistin Lisa Belkin, dass »»doch alles in der MRT erkennbar ist«, und sie verwies auf Studien, die zeigen, dass die Gehirne von Frauen und Männern jeweils anders »aufleuchten«, wenn sie denken oder fühlen. Und derart verschiedene Gehirne, so die Argumentation meiner Gesprächspartnerin, müssen doch zwangsläufig auch andere Entscheidungen treffen.«
Die neurowissenschaftlichen Entdeckungen, von denen wir fast täglich in Zeitungen, Zeitschriften, Büchern, teilweise sogar in Fachzeitschriften lesen, erzählen eine Geschichte von zwei Gehirnen, die sich grundsätzlich unterscheiden und die überzeitliche und unveränderliche psychische Unterschiede /wischen den Geschlechtern zur Folge haben: eine unwiderstehliche Geschichte, die eine saubere, befriedigende Erklärung und Rechtfertigung des Status quo liefert.
An diesem Punkt sind wir allerdings wahrhaftig nicht zum ersten Mal.
Im 17. Jahrhundert waren Frauen, was die Ausbildung anging, empfindlich benachteiligt; so waren sie beispielsweise außerstande, sich politisch zu entwickeln, »weil sie keine Erziehung in politischer Rhetorik genossen hatten, weil sie weder zur Bürgerschaft noch zur Regierung Zugang hatten und weil allgemeine Übereinstimmung bestand, dass Frauen sich in politische Angelegenheiten nicht einmischen sollten - es sei für eine Frau sogar unschicklich, zu schreiben.« Doch obwohl die intellektuelle Entwicklung der Frauen so - für unsere modernen Augen offensichtlich - behindert wurde, ging die allgemeine Annahme dahin, dass Frauen von Natur aus schwächer seien. Während wir im Rückblick ganz klar erkennen, dass der anscheinend überlegene männliche Verstand und die Leistungen von Männern auf etwas anderes zurückzuführen waren als ihre naturgegebene neuronale Ausstattung, war es zu jener Zeit durchaus notwendig, daraufhinzuweisen. Eine Feministin des 17. Jahrhunderts formulierte es so: »Ein Mann sollte sich nicht für klüger halten als eine Frau, wenn er seinen Vorsprung einer besseren Ausbildung und leichterem Zugang zu Informationen verdankt; er würde sich ja auch nicht seiner Kühnheit rühmen, wenn er einen anderen schlagen würde, dessen Hände gefesselt sind.«
Wir haben bereits gesehen, dass Thomas Gisborne im 18. Jahrhundert es nicht für nötig befand, eine alternative Interpretation seiner Beobachtungen von den sozialen Unterschieden zwischen den Geschlechtern in Betracht zu ziehen. Die Schriftstellerin Joan Smith stellte fest:
Sehr wenige Frauen, die im England des späten 18.Jahrhunderts aufwuchsen, hätten die Grundlagen der Jurisprudenz oder der Navigation verstanden, aber das lag nur daran, dass ihnen der Zugang dazu verweigert worden war. So offensichtlich das für einen modernen Beobachter ist, Hunderttausende von Lesern, die Gisbornes Buch kauften, akzeptierten seine Argumentation unbesehen, weil sie genau ihren eigenen Vorurteilen entsprach.
Aber auch im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert hatten Frauen keinen gleichberechtigten Zugang zu weiterführender Schulbildung. Der bekannte Psychologe Edward Thorndike erklärte: »Frauen können und werden zweifellos als Naturwissenschaftler und Techniker tätig sein, doch der Joseph Henry, der Rowland und der Edison der Zukunft, sie alle werden Männer sein.« War diese zuversichtliche Prognose zu einer Zeit, als Frauen beispielsweise für Harvard, Cambridge oder Oxford gar keine vollwertige Zulassung bekamen, nicht vielleicht doch ein bisschen vorschnell?
Und bedenkt man, dass Frauen zu jener Zeit kein Wahlrecht hatten, war es da nicht auch etwas verfrüht, wenn Thorndike im Brustton der Überzeugung verkündete, dass Frauen, »selbst wenn sie alle wählen dürften, im Senat nur eine kleine Rolle spielen würden«? Im Rückblick sind die Beschränkungen, denen Frauen unterworfen waren, nur allzu offensichtlich. Hallo, Professor Thorndike, könnten wir doch im Stillen denken, haben Sie schon mal in Erwägung gezogen, Frauen zur Royal Society zuzulassen, oder ihnen vielleicht eine Kleinigkeit wie das Wahlrecht zuzugestehen, bevor Sie über ihre Beschränktheit auf naturwissenschaftlichem und politischem Sektor urteilen? Aber für viele Menschen jener Zeit war das Gefalle des Spielfelds überhaupt nicht wahrnehmbar. Und so kam es, dass die Feststellung des Philosophen John Stuart Mill aus dem Jahr 1869, dass kein Mensch »um das Wesen der beiden Geschlechter weiß oder wissen kann, der sie lediglich in der gerade vorherrschenden Beziehung zueinander wahrnimmt«,31 wahrhaft revolutionär war und dementsprechend belächelt und abgelehnt werden konnte. Jahrzehnte später noch wagte die angesehene Forscherin Cora Castle nur ganz ansatzweise die Frage zu stellen: »Ist angeborene Unterlegenheit der Grund für die geringe Anzahl berühmter Frauen, oder hat ihnen die Zivilisation nie die Möglichkeit gegeben, ihre angeborenen Fähigkeiten und Begabungen zu entfalten?«
Auch die Untersuchung des Gehirns zur Erklärung und Rechtfertigung der bestehenden Geschlechterverhältnisse ist ein alter Hut. Im 17. Jahrhundert erklärte der französische Philosoph Nicolas Malebranche, Frauen seien »unfähig, zu Wahrheiten vorzudringen, die nicht ohne Mühe zu erkennen sind«, denn »alles Abstrakte ist ihnen unbegreiflich«. Es gibt, so seine These, dafür eine neurologische Erklärung: die »zarte Beschaffenheit der Gehirnfasern«. Es muss wohl nur ein abstrakter Gedanke zu viel auftauchen, und - ping! - sind diese Fasern auch schon gerissen. In den folgenden Jahrhunderten, parallel zur Erweiterung und Weiterentwicklung der Erkenntnisse und Techniken in den Neurowissenschaften, wurden dann die neurologischen Erklärungen für die unterschiedlichen Rollen, Tätigkeiten und Leistungen von Männern und Frauen immer ausgefeilter. Die ersten Hirnforscher arbeiteten mit der Spitzentechnologie ihrer Zeit: Sie füllten emsig leere Schädelgehäuse mit Gerstengraupen, kategorisierten mit Hilfe von Maßbändern sorgfältig Schädelformen und weihten einen Großteil ihrer Karriere dem Wiegen von Gehirnen.34 Infamerweise erklärten sie, die intellektuelle Unterlegenheit von Frauen gehe auf ihr kleineres, leichteres Gehirn zurück -ein Phänomen, das in der viktorianischen Öffentlichkeit als »die fehlenden fünf Unzen des weiblichen Gehirns« Furore machte.
Für die allgemein akzeptierte Hypothese, dass dieser Unterschied in der Ausprägung des Gehirns von größter psychologischer Bedeutung sei, setzte sich Paul Broca ein, einer der angesehensten Wissenschaftler seiner Zeit. Erst als es einfach zu offensichtlich wurde, dass das Gewicht des Gehirns mit Intelligenz nichts zu tun hat, waren Hirnforscher bereit zuzugeben, dass das große männliche Gehirn vielleicht einfach nur den männlichen Vorsprung in Sachen Körpergröße widerspiegelt. Damit wurde die Suche nach einem Maß für ein relatives statt eines absoluten Hirngewichts angestoßen, mit dem dann klargestellt werden konnte, welches Geschlecht absolut gesehen das größere Gehirn hat. Die Wissenschaftshistorikerin Cynthia Russett stellt diese Suche folgendermaßen dar:
Man probierte es mit zahlreichen Bezugsgrößen - Gehim-gewicht zu Körpergewicht, zu Muskelmasse, zu Größe des Herzens, sogar (man merkt, allmählich macht sich Ratlosigkeit breit) zu bestimmten Teilen des Skeletts wie etwa dem Oberschenkelknochen.
Heute haben wir eine etwas genauere Vorstellung von der Komplexität des Gehirns. Zweifellos bedeutete das Vordringen vom umhüllenden Gehäuse ins Gehirninnere einen wissenschaftlichen Fortschritt. Es war natürlich ein entscheidender Augenblick, als ein vorausschauender Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, der mit der konzentrierten Zerstreutheit des Mannes, den die leise Ahnung beschleicht, seine Analyse
könnte bestimmte wichtige Details unberücksichtigt gelassen haben, das Maßband in seinen Fingern hin- und herdrehte und grübelnd sagte: »Ach, reichen Sie mir doch bitte mal das Gehirn und die Waage herüber.« Doch selbst der ungelehrte Laie des 21. Jahrhunderts kann erkennen, dass das die Wissenschaftler dem Verstehen des Geheimnisses, wie Gehirnzellen die Geistmaschine schaffen, nur unwesentlich näher brachte, und er ahnt die missliche Überstürztheit der Schlussfolgerung, dass die kognitive Unterlegenheit von Frauen in Gramm auszudrücken ist.
Man sollte meinen, dass diese Art von Vorurteil in der gegenwärtigen Debatte keinen Platz mehr hat, denn wir sind doch alle so aufgeklärt - oder womöglich gar zu aufgeklärt? Autoren, die die These vertreten, dass es die hirnphysiologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind, die das aktuelle Geschlechterverhältnis prägen, nehmen gern die Haltung von furchtlosen Streitern für die Wahrheit ein, die sich unerschrocken der dumpfideologischen political correctness entgegenstemmen. Doch die Thesen von den »grundlegenden Unterschieden« zwischen den beiden Geschlechtern reflektieren - und legitimieren darüber hinaus mit wissenschaftlicher Autorität - lediglich das, was meines Erachtens sowieso die Meinung der Mehrheit ist. Wenn wir überhaupt etwas aus der Geschichte lernen können, dann die Notwendigkeit, einen zweiten, genaueren Blick auf unsere Gesellschaft und den gegenwärtigen Stand der Naturwissenschaft zu werfen. Genau das ist das Ziel dieses Buches.
Die Grundlage des ersten Teils, »Halbwegs veränderte Welt, halbwegs verändertes Denken«, bildet die kritische Idee, dass der Geist »keine in sich abgeschlossene, im Gehirn eingepackte Einheit« ist. »Vielmehr haben wir eine Struktur psychischer Prozesse vor uns, die von der sie umgebenden Kultur geprägt und entsprechend auf diese abgestimmt sind.«
Wir pflegen über uns selbst so nicht zu denken, und man unterschätzt leicht den Einfluss dessen, was sich außerhalb des Denkens abspielt, auf das, was im Inneren passiert. Wenn wir im Brustton der Überzeugung »weibliches« mit »männlichem Denken« vergleichen, stellen wir uns etwas Stabiles im Kopf einer Person vor, das Produkt eines »weiblichen« oder »männlichen« Gehirns. Doch eine derart sauber abgetrennte Datenverarbeitungsinstanz ist etwas anderes als das Denken, das sich für Sozial- und Kultur p sychologen mit zunehmender Deutlichkeit abzeichnet. Es gibt keine »markante Linie, die das Selbst von der Kultur trennt«, so Mahza-rin Banaji, Professorin für Psychologie an der Harvard Uni-versity, und die Kultur, in der wir uns entwickeln und in der wir leben, übt »tiefgreifenden Einfluss« auf unser Denken aus.
Aus diesem Grund können wir die Geschlechtsunterschiede zwischen weiblichem und männlichem Geist - dem Geist als der Quelle unserer Gedanken, Gefühle, Fähigkeiten, Motivationen und unseres Verhaltens - nicht verstehen, wenn wir nicht auch berücksichtigen, wie durchlässig der Schädel ist, der den Geist von dem soziokulturellen Kontext trennt, in dem er tätig ist. Wenn die Umgebung das Geschlecht in irgendeiner Weise thematisiert, dann hat das Auswirkungen auf den Geist. Unser Ausgangspunkt ist, dass wir uns selbst in Gender-Begriffen vorstellen, und dadurch wird der Stellenwert von Stereotypen und sozialen Erwartungen in unserem Denken heraufgesetzt. Das kann die Selbstwahrnehmung und die aktuelle Interessenlage verändern, Fähigkeiten mindern oder stärken und ungewollte Diskriminierung auslösen. Mit anderen Worten, der soziale Kontext beeinflusst, wer Sie sind, wie Sie denken und was Sie tun. Und diese Ihre Gedanken, Gewohnheiten und Haltungen werden ihrerseits wieder zu einem Bestandteil des sozialen Kontexts. Es geht um unser Inneres.
Trennschärfe ist in diesem Bereich nicht zu erwarten. Und das Thema verlangt nach einer veränderten Art, über den Unterschied zwischen den Geschlechtern nachzudenken.
Dazu kommen die weniger subtilen, bewussten Diskriminierungsmaßnahmen gegen Frauen, die weit verbreiteten Formen von Ausschließung, die Schikanen und die diversen Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz oder im privaten Umfeld. Sie ergeben sich aus den immer noch virulenten und wirkmächtigen Vorstellungen von den Rollen der Männer und der Frauen in ihren jeweils angemessenen Lebensbereichen.
Am Ende des ersten Teils drängt sich die Frage auf, ob wir nicht sogar auf den blinden Fleck des 21. Jahrhunderts gestoßen sind. Alice Silverberg, Professorin für Mathematik an der Univer-sity of California-Irvine, meinte dazu:
Während meiner Studienzeit haben mir die Frauen aus der Generation vor mir Horrorstorys über die früher üblichen Diskriminierungen erzählt, und sie fügten r egelmäßig hinzu: »Aber heutzutage ist das ja alles anders. Dir kann das nicht mehr passieren.« Mittlerweile weiß ich, dass das auch von den Generationen davor behauptet wurde, und jetzt erzählt meine Generation der folgenden wieder dasselbe. Natürlich sagen wir dann zehn oder mehr Jahre später jeweils: »Wie konnten wir bloß glauben, dass das etwas mit Gleichheit zu tun hatte?« Tun wir der nächsten Generation einen Gefallen, wenn wir ihnen erzählen, alles sei in Ordnung und gerecht, wenn das gar nicht stimmt?
Im zweiten Teil des Buchs, »Neurosexismus«, schauen wir uns die Aussagen über männliche und weibliche Gehirne genauer an. Was ist eigentlich mit der Aussage gemeint, dass es angeborene Geschlechtsunterschiede gibt oder dass die »Verdrahtung« von männlichem und weiblichem Gehirn unterschiedlieh ist, damit Männer und Frauen ihren unterschiedlichen Rollen und Tätigkeiten besser gerecht werden können? Die Neurowissenschaftlerin Giordana Grossi bemerkt, dass diese schnellfertigen Wendungen »in Verbindung mit dem ständigen Verweis auf Geschlechtshormone den Eindruck von Stabilität und Unveränderbarkeit vermitteln sollen: Frauen und Männer verhalten sich unterschiedlich, weil ihre Gehirne unterschiedlich aufgebaut sind.«
Unter eifrigen Lesern populärwissenschaftlicher Bücher und Artikel dürfte sich mittlerweile der Eindruck ziemlich verfestigt haben, es sei wissenschaftlich erwiesen, dass der Pfad zu einem männlichen oder weiblichen Gehirn bereits in der Gebärmutter eingeschlagen wird und dass diese unterschiedlich aufgebauten Gehirne später fundamental unterschiedliches Denken und Fühlen zur Folge haben. Es gibt im Gehirn tatsächlich Unterschiede, die durch das Geschlecht bedingt sind. Es gibt außerdem (wenn auch allmählich weniger werdende) Unterschiede bezüglich dessen, was eine Person tut und welche Möglichkeiten ihr offenstehen, die durch das Geschlecht bedingt sind.
Es wäre einleuchtend, wenn diese Fakten irgendwie zusammenhingen, und vielleicht ist das ja tatsächlich der Fall. Wenn wir allerdings die Entwicklung der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Forschung nachverfolgen, stoßen wir auf eine erstaunliche Anzahl von Lücken, Unstimmigkeiten, methodischen Schlampereien und unbegründeten Vorannahmen und nicht zuletzt auf zahlreiche Anklänge an eine ungute Vergangenheit. Anne Fausto-Sterling, Professorin für Biologie und Gender-Studies an der Brown University, wies darauf hin, dass »trotz der vielen aktuellen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Hirnforschung dieses Organ nach wie vor in hohem Maße terra incognita ist, also ein perfektes Medium, auf das man - häufig unbewusst - Vermutungen über den Unterschied zwischen Mann und Frau projizieren kann«.
Allein schon die Komplexität des Gehirns bietet sich hervorragend für Überinterpretationen und übereilte Schlussfolgerungen an. Nachdem wir die Problemstellungen und Daten systematisch analysiert haben, werden wir die Frage stellen, ob die modernen neurowissenschaftlichen Erklärungen der Ungleichheit von Mann und Frau womöglich auf denselben Müllhaufen gehören wie die Erfassung des Schädelvolumens, des Hirngewichts und der Nervenfaserempfindlichkeit.
Und es ist wichtig, dass Wissenschaftler sich dieser Gefahr bewusst bleiben, denn aus den Samen wissenschaftlicher Spekulation wachsen die monströsen Fiktionen der Autoren von populärwissenschaftlichen Werken. Ständig werden von sogenannten Experten Behauptungen aufgestellt, die »lediglich altbekannte Stereotype mit dem Lack wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit überziehen«, so die Warnung von Caryl Rivers und Rosalind Barnett im Boston Globe. Und dieser »weit verbreitete Neurosexismus« findet dann schnell seinen Weg in seriöse wissenschaftliche Bücher und Artikel für die interessierte Öffentlichkeit, zu der nicht zuletzt auch Eltern und Lehrer gehören. Es ist schon jetzt so weit, dass Sexismus in neurowissenschaftlichem Gewand die Art und Weise beeinflusst, wie Kinder unterrichtet werden.
Neurosexismus reflektiert und verstärkt die Vorstellungen der Gesellschaft hinsichtlich Genderfragen, und zwar unter Umständen in besonders wirkmächtiger Form. Dubiose, »von der Gehirnwissenschaft gestützte Fakten« über die Unterschiede zwischen den Geschlechtern werden zu einem Bestandteil des kollektiven Wissens. Und wie ich im dritten Teil des Buches, »Gender-Recycling«, aufzeigen werde, deutet alles daraufhin, dass sich das Rad der Geschlechtervorurteile auch in der nächsten Generation weiterdrehen wird. Kinder fiebern darauf, ihren eigenen Ort in der auffälligsten und omnipräsen-ten Zuordnungsstruktur der Gesellschaft zu verstehen und zu finden, und sie kommen als Kinder von Eltern mit halb verändertem Denken auf eine halb veränderte Welt.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass zu meinen Lebzeiten eine Frau Premierminister sein wird.
Margaret Thatcher (1971), britische Premierministerin von 1979 bis I99O.
Es ist wichtig, sich ab und zu daran zu erinnern, wie gravierend sich eine Gesellschaft in relativer kurzer Zeit verändern kann. Präzedenzfälle dafür finden sich immer wieder. Kann es eine Gesellschaft, in der Männer und Frauen wirklich gleichbehandelt werden, denn überhaupt geben? Ironischerweise ist womöglich der unerbittlich-unüberwindliche Gegendruck, der das verhindert, gar nicht die Biologie, sondern unser durch die Kultur geprägtes Denken. Niemand kann heute sagen, ob Männer und Frauen jemals in den Genuss echter Gleichheit kommen werden. Aber Eines weiß ich sicher: Wenn den Gegenpositionen, die ich in diesem Buch präsentieren werde, Gehör geschenkt wird, dann werden die Leute in 50 Jahren auf die zu Beginn dieses 21. Jahrhunderts geführten Debatten befremdet und amüsiert zurückschauen und sich fragen, wie wir je hatten annehmen können, dass dieser Zustand das Nonplusultra an Gleichheit darstellte.